Tinnitus – oder der Verlust der Stille …wenn es ständig klingelt, rauscht oder zischt
von Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer
Tinnitus ist keine Diagnose, sondern lediglich ein Symptom.
Hierbei handelt es sich um Ohrgeräusche, die ständig in gleichbleibender oder wechselnder Intensität, oft sehr quälend erlebt werden.
Ab dem 40. Lebensjahr kennt fast jeder Zweite in der Bevölkerung, zumindest vorübergehend, solche Ohrgeräusche. Erst wenn so ein Tinnitus dekompensiert, d.h. ständig in quälender Intensität den normalen Tages- und Nachtrhythmus stört, wird in der Regel ein Arzt aufgesucht.
Das Fiese an Ohrgeräuschen ist, dass gerade in Zeiten wo man sich entspannen oder schlafen möchte, die Ruhephase gestört wird. So kommt es zu Schlafstörungen und in der Folge häufig auch zu depressiven Verstimmungen.
Was führt jedoch zu einer derartigen Dekompensation eines mit steigendem Alter fast schon „normalen“ Ohrgeräusches?
Meist gibt es keine einzelne Verursachung.
Multikausal ist das Schlagwort.
Von HNO-Erkrankungen wie Mittelohrerkrankungen oder Innenohrerkrankungen, Z. n. Lärmschädigungen über ein Akustikusneurinom (gutartiger Hirntumor) bis zu internistischen Erkrankungen (Stoffwechsel – hoher Blutdruck) und orthopädische Erkrankungen mit degenerativen Veränderung der HWS, eine organmedizinische Abklärung ist nötig.
Von psychosomatischer Seite aus ist im Vorfeld einer Dekompensation eines Tinnitus praktisch stets eine massive Überlastung (Stress) sowie konflikthafte Spannungsfelder sowohl in der Arbeit (meist auch im privaten Beziehungsbereich) feststellbar.
Da die Ohrgeräusche stets im Gehirn wahrgenommen werden, ist beim Ohrgeräusch stets die psychische Verarbeitung ausschlaggebend, die Beeinflussbarkeit des Tinnitus durch adäquate Verarbeitung von Stressreizen und Entspannungsverfahren erklärbar.
Meist handelt es sich beim Tinnituspatienten um Menschen, die in letzter Zeit stark „unter Strom standen“ oder „viel um die Ohren hatten“ , sich ständig anstrengen mussten, sich zusammenreißen, überhaupt um Menschen, die eher mit folgenden Merkmalen beschrieben werden können: fleißig – ehrgeizig – pflichtbewusst – und aggressionsgehemmt.
Diese Menschen, die sich sehr an die Erfordernisse unserer Leistungsgesellschaft angepasst haben, haben früh gelernt, Aggressionen zu schlucken und zu stauen, wobei der Druck im Inneren in Analogie zum schwäbischen Dampfkochtopf ständig steigt, bis es schließlich zu einem Überdruck kommt und ein Notventil (Tinnitus) aufgeht.
Wer sich zwanghaft anpassen muss, muss oft auf die Zähne beißen, die letzte Bremse, bevor unerwünschte aggressive Gefühle herausgelassen und ausgesprochen werden. So entstehen Spannungen im Kiefergelenksbereich, im Schulter-Nacken-Bereich, die die Durchblutung zum Innenohr negativ beeinflussen.
Viele Menschen mit quälendem Tinnitus haben auch gelernt, ihren Mitmenschen wenig zu vertrauen. Als Grundgefühl lauert meistens ein Misstrauen, eine Ungewissheit, ob vom anderen feindselige Impulse ausgehen. Misstrauen führt zu Wachsamkeit bis hin zur Alarmiertheit. Alle Sinnesorgane stehen in Alarmbereitschaft. Am häufigsten wird das Gehör zum Radarsystem erkoren, das feindselige Bewegungen frühzeitig erkennen soll. Manche Menschen mit Ohrensausen (Tinnitus) haben ihre Ohren in Radarschirme umkonstruiert und dadurch zugrunde gerichtet. Misstrauische, aggressiv-gehemmte Menschen haben oft in der frühen Kindheit bereits eine Gleichsetzung von „Aggressiv“ und „Böse“ gelernt. Wer böse ist, wird nicht geliebt. Wer nicht geliebt wird, ist den Eltern nicht willkommen, darf nicht dableiben. Um emotional zu überleben, muss das Kind sich, wie auch immer, von seinen aggressiven Impulsen trennen. Dies geschieht oft dadurch, dass bei unseren Mitmenschen viel Aggression wahrgenommen wird, um von den eigenen Aggressionen abzulenken. Dahinter spürbar ist aber stets eine Angst, nicht angenommen zu werden, die Angst, dass etwas Böses in einem selber ist und dass man sich selbst nicht vertrauen kann. Dieses Böse wird versucht, durch Zwanghaftigkeit auf eine magische Weise zu bannen. Misstrauen gegen sich selbst ist ein wichtiger Motor zwanghaften Verhaltens.
Das Ohr ist ein wichtiges Sinnesorgan, das leider, weil es in der Beobachtung der Umwelt so wichtig ist, nicht bei Bedarf verschlossen werden kann. So ist dieses Organ ständig „eingeschaltet“, hat nie Pause und kann sich auch vor Reizüberflutung nicht selbst schützen.
Bei einer Überlastung im privat-beruflichen Bereich kann es schon mal vorkommen, dass „an nichts mehr hören kann oder will“, nicht mehr „gehorsam“ sein möchte. Deshalb ist es in der Therapie so wichtig, erst mal aus dem beschriebenen Spannungsfeld herauszugehen. Eine Zäsur ist wichtig: Zeit für eine Neubesinnung.
So wie es keine einzelne Ursache für den Tinnitus gibt, so gibt es auch keine einzelne spezifisch wirksame Therapie.
Sehr wichtig erscheint uns die Neubesinnung, die Herausnahme aus Spannungsfeldern, das Erlernen von Entspannungsverfahren, bei uns kombiniert mit Biofeedback, verschiedenen Entspannungsverfahren und auch Ohrkerzentherapie, die einen sehr entspannenden Einfluss auf den Kopfbereich haben.
Die Ordnungstherapie mit Erlernen eines strukturierten Tagesablaufes mit Wechsel von Anspannung und Entspannung sowie auch einem Genusstraining ist meist sehr wichtig.
Unterstützt wird die Therapie bei einer ausgeprägten depressiven Entwicklung mit einer antidepressiven Psychotherapie ggf. in Kombination mit pflanzlichen oder chemischen Antidepressiva. Hypnotische Tiefenentspannungsverfahren zur besseren Abschaltfähigkeit sowie der Einsatz verschiedenster regulativ wirksamer Naturheilverfahren (z.B. Akupunktur, Neuraltherapie, Schröpfen) runden im individuellen Fall die ganzheitliche Therapie von Körper und Seele ab.
Für unsere Patienten in der psychosomatischen Panoramafachklinik in Scheidegg ist es wichtig, ein Tinnitus-Tagebuch anfänglich zu führen, in dem die Lautstärke des Tinnitus über den Tag protokolliert wird und insbesondere angeschaut wird, was jeder von uns in der Zeit getan hat, wo das Ohrgeräusch am lautesten bzw. am leisesten ist.
So können Einflussgrößen und Selbsthilfemaßnahmen erkannt werden. Der Zusammenhang mit dem Umgang mit eigenen Gefühlen, insbesondere Wut, Angst und Trauer, kann mit Hilfe eines solchen Tinnitus-Tagebuches, wo auch noch begleitende katastrophisierende Gedanken und Reaktionen aufgeschrieben werden, erkannt werden.
Dieses Tagebuch ist ein wichtiger gezielter Hinweis für die Gesprächstherapie.
Selbst langjähriger Tinnitus kann mit Hilfe ganzheitlicher Therapie beseitigt werden, zumindest aber wieder in den Bereich des „Normalen“ zurückgeführt werden, also wieder zur Kompensation gebracht werden, so dass die Lebensqualität nicht mehr wie vorher beeinträchtigt ist.
Dr. Wolf Maurer,
Chefarzt der Privatklinik der Panoramafachkliniken in Scheidegg
PSS 1, 5, 6, 7, 8, 11, 16, 18, 20, 21, 27