Wenn nur der Körper sich erinnert……
Die moderne Form der Hysterie:
Konversionsstörungen
von Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer
Was sind die Hintergründe in der Entstehung von psychogenen körperlichen Symptomen?
Als Konversion versteht man den Sprung vom Seelischen ins Körperliche.
Häufig handelt es sich bei sogenannten Konversionsstörungen, eine Sonderform somatoformer Störungen, um abgespaltene, schmerzliche und traumatische Erlebnisse, an die nur noch in Form von Körpersymptomen erinnert wird.
Wie kann Menschen mit solchen Störungen geholfen werden?
Über Jahrhunderte hinweg war Hysterie eine Diagnose von Männern für eine „Frauenkrankheit“. Stets war der Begriff der Hysterie mit Abwertungen verbunden, umgangssprachlich als Synonym für exaltiertes weibliches Verhalten benutzt. Bei Konversionsstörungen handelt es sich um körperliche Symptome, die psychogen bedingt sind. Diese treten nicht nur bei Menschen mit einem hysterischen Persönlichkeitsstil mit entsprechendem theatralischem Verhalten, Dramatisierungs- und Demonstrationstendenzen, übersteigerte Emotionalität und deutlich verführerischem Verhalten auf. Ebenfalls nicht nur bei Frauen. Zwar wurden im antiken Griechenland die hysterischen Phänomene in Verbindung gebracht mit Wanderung der Gebärmutter (griechisch: Hysteron), bedingt durch die sexuelle Enthaltsamkeit der Frau.
Schon früh wurde also die Verbindung zu sexuellen Konflikten hergestellt. Verbindendes Merkmal aller Konversionssymptome ist der symbolische Ausdrucksgehalt: wir drücken oft generell körperlich aus, was wir seelisch empfinden, wie z.B. bei Wut die Faust zu ballen, oder bei Scham zu erröten. Wenn unsere Wünsche und Gefühle auf inneren Widerstand stoßen, wir also in einem seelischen Konflikt stehen, kann nun aus diesem Ausdrucksgeschehen ein körperliches Symptom werden. Der seelische Impuls wandelt sich (konvertiert) ins körperliche und findet dort symbolhaft seinen Ausdruck. Das Körpersymptom stellt also den psychischen Konflikt symbolisch dar, der Konflikt ist unbewußt geworden, Gefühle und Wünsche der Patienten werden durch die Symptomatik vom Bewußtsein abgespalten.
Aus klassischer Sicht handelt es sich bei hysterischen Symptombildungen um eine gestörte Mutter-Kind-Beziehung, in der der Vater in seiner dreiecksbildenden Hilfsfunktion nicht ausreichend zur Verfügung stand. Zunehmend häufiger muß allerdings das Grundmotiv darin gesehen werden, daß es sich um Verlust oder Trennung dreht, daß die Symptome die Sorge um Angenommenwerden darstellen oder Verlassenheitsgefühle symbolisch ausdrücken. Es handelt sich hierbei häufig um Hilfsappelle an wichtige Mitmenschen, in denen eigene Geborgenheitswünsche, die selbst noch nicht ausgedrückt werden können, dargestellt werden. Das tragische Mißverständnis ist häufig darin begründet, daß man häufig hysterische Inszenierungen mit dem Wunsch nach Verführung gleichstellt.
Konversionssymptome sind allerdings immer häufiger heutzutage als Begleitphänomene und Folgeprobleme bei lebensbedrohlichen Ereignissen unter Extrembelastungen und während bzw. nach traumatischer Einwirkung zu beobachten. Gerade bei chronischen, länger bestehenden Körpersymptomen in Verbindung mit einem auffälligen Persönlichkeitsstil dominieren zunehmen häufig lebensgeschichtlich relevante Traumatisierungen wie körperliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe durch nahe Angehörige. Bei den übrigen Patienten sind häufig psychosoziale Belastungen feststellbar, die zeitlich mit der Entwicklung von körperlichen Symptomen in einen Zusammenhang zu bringen sind: Bei etwa der Hälfte der Patienten sind dies Ereignisse im Sinne eines drohenden Verlustes oder einer Trennung von einer wichtigen Bezugsperson.
Schlimme, schmerzliche Beziehungserlebnisse mit unerträglichen und unerlaubten Gefühlen werden also vom Bewußtsein abgespalten (dissoziiert) und nur der Körper erinnert an diese. So sind Konversionssymptome also auf eine Abspaltung von schmerzhaften Gefühlen und damit verbundenen Vorstellungen vom Bewußtsein zurückführbar. Der Mechanismus der Dissoziation ist ein lebenswichtiger, allen Menschen zur Verfügung stehender Mechanismus um trotz überwältigender traumatischer Erlebnisse das bisherige Selbstbild beizubehalten. Die traumatisierte Person kann quasi aus ihrem Körper heraustreten, den leidenden Körper verlassen und sich später eventuell gar nicht mehr an die traumatischen Erlebnisse erinnern, die allerdings durchaus in unterschiedlichen Gedächtnisarealen des Gehirns weiter unbewußt gespeichert bleiben. Diese nicht bewußt erinnerbaren Sinneseindrücke von traumatischen Erlebnissen haben trotzdem einen erheblichen Einfluß auf das Verhalten und Erleben. Traumatisierte Patienten zeigen oft konflikthaftes Verhalten: auf der einen Seite versuchen sie auf gar keinen Fall, sich an das Trauma zu erinnern und um eben dies zu verhindern müssen sie, ohne es bewußt zu merken, das gesamte Umfeld fortlaufend daraufhin überprüfen, ob es nicht Informationen enthält, die an das Trauma erinnern. Situationen, die Ähnlichkeit haben mit dem Trauma in punkto optische, akustische, Körper-, Geschmacks- oder Geruchsempfindungen können als Trigger dienen für die Auslösung von Wiedererinnerungen an das Trauma. So scheitern die Versuche einer Erinnerungsvermeidung meist regelhaft, was dazu führt, daß die gewählten Abwehrmechanismen, wiederholt zusammenbrechen und die abgewehrten Informationen z.B. in Form von Flash-backs (plötzlichen filmartigen szenischen Abläufen vor dem inneren Auge), Alpträumen und ungewollten Erinnerungen ins Bewußtsein dringen, oder sich eben auch in Form von körperlichen Konversionssysmptomen Ausdruck verschaffen. Außer psychischen Funktionsstörungen in Form von Erinnerungsstörungen (Amnesien), Unwirklichkeitsempfindungen (Depersonalisationserlebnisse, „als ob man neben sich stehe“), psychischen Erregungszuständen und sexuellen Empfindungsstörungen treten als dissoziative Symptome folgende körperliche Symptome als Konversionsstörungen auf:
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Motorische Störungen:
Hier wird zwischen abnormen Bewegungen und Lähmungen unterschieden. Abnorme Bewegungen treten in vielerlei Formen in Erscheinung, z.B. als grober rhythmischer Zitteranfall, der Extremitäten bis hin zu krampfartigen Bewegungen des Köpers. Auch Geh- und Stehunfähigkeit tritt auf. Lähmungen können auftreten in Form der einfachen Lähmung einer Hand, einer Extremität bis hin zu Halbseiten- und Querschnittslähmungen rein psychogener Natur. Aphonien treten auf und hierbei handelt es sich um die Unfähigkeit, irgendwelche Laute noch mit den eigenen Stimmbändern hervorbringen zu können.
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Empfindungsstörung:
Hierbei handelt es sich insbesondere um Störungen der Hautwahrnehmung, zumeist in den Extremitäten. Dabei können alle Sinnesqualitäten betroffen sein. Taubheitsgefühle treten auf, herabgesetzte oder schmerzlich heraufgesetzte Berührungsempfindlichkeit, Mißempfindungen treten ebenso auf wie Schmerzen, so z.B. Rückenschmerzen oder Kopfschmerzen. Ebenfalls treten auch nicht selten Sehstörungen auf und äußern sich dann als „Tunnel sehen“ eines oder beider Augen. Seltener werden Ohnmachtsanfälle berichtet.Allerdings können Konversionsstörungen psychogener Natur multiple organische Krankheiten quasi imitieren wie z.B. Doppelbilder, Empfindungs- und Gangstörungen und Schmerzen, die so am Anfang an den Beginn einer multiplen Sklerose denken lassen könnten. Auch das häufige psychogene Erbrechen gehört genauso hier hin, wie das „Nagelgefühl“, eine umschriebene schmerzhafte Stelle am Schädeldach, bis hin zur Scheinschwangerschaft.
Während noch vor 100 Jahren die großen hysterischen Krampfanfälle, Bewegungen des Unterleibs mit Überstreckung des Rückens, dominierten oder Ausfälle der großen Sinnesorgane, beobachtet man heute eher funktionelle Beschwerden im Magen-/Darmbereich und Herz-/Kreislaufsystem oder eben wechselnde körperliche Beschwerdesymptombildungen. Der Einfluß der Medien ist bei der hohen Suggestibilität der Patienten häufig ausschlaggebend. Entsprechend der aktuellen Coolness unserer Zeit dominieren heute also eher subtilere Beschwerdeangaben. Je nach Tagesaktualität können Umweltgifte, die zu Sensibilitätsstörungen führen sollen und zeitgenössische Viren, die einen unklaren Erschöpfungszustand hervorrufen, gleichfalls Themen von konversionsneurotischen Ausgestaltungen sein. Stets muß eine neurologisch-psychiatrische Untersuchung zum Ausschluß organischer Erkrankungen erfolgen. Nicht selten kann sich eine psychogene Konversionsstörung auf vorbestehende körperliche Erkrankungen aufpfropfen.
Es gibt rasch vorübergehende Konversionssymptome, die auch ohne weitere Behandlung wieder völlig abklingen. Dies ist häufig in Zusammenhang mit akuten Belastungen und Traumaerfahrungen beobachtbar. Allerdings wiesen 30 % der Patienten noch nach fünf Jahren Symptome auf und 20 % auch noch nach 15 oder mehr Jahren. Insbesondere ein sekundärer Krankheitsgewinn durch soziale
Verstärkerprozesse kann zu einer Chronifizierung psychogener körperlicher Symptome führen. Ebenso ist eine mangelhafte psychosoziale Einbindung in Familie und Beruf mit einer schlechten Prognose verbunden.
Beispiele für Konversionsstörungen:
1. Beispiel
Eine 18-jährige Patientin berichtete über akut aufgetretene Sehstörungen mit Tunnel-sehen, Verschwommen-sehen und zeitweiliger völliger Erblindung des linken Auges und entwickelte zeitgleich eine schmerzhafte Bewegungsunfähigkeit des gesamten linken Armes. Diese Symptomatik trat auf, nachdem die Patientin an einem Abend zum ersten Mal mit ihrem Freund, den sie seit 3 Monaten kannte, schlafen wollte. In der darauf folgenden Psychotherapie, die von der Organmedizin eingeleitet wurde, weil kein organischer Befund gefunden werden konnte, erinnert sich die Patientin zunehmend an ein bereits mehrere Jahre zurückliegendes Vergewaltigungstrauma im Auto, in dessen Rahmen ihr die Augen verbunden und der linke Arm hinter dem Sitz eingeklemmt wurde. Erst durch vollständige Wiedererinnerung dieses Traumas und im Rahmen der therapeutischen vertrauensvollen Beziehung und Wiedererleben der schmerzlichen Gefühle lösten sich die Konversionssymptome auf.
2. Beispiel
Eine 24-jährige Studentin entwickelt einen akuten Schiefhals (krampfartige Verdrehung des Kopfes), als sie in den Sommerferien von ihren Eltern mit deren selbstverständlichen Erwartung konfrontiert wurde, daß sie wieder in ihrem kleinen Selbstbedienungsladen aushelfen solle. Sie trat in den Laden und als der erste Kunde hereinkam, zog es ihr den Hals zur Seite. In diesem Beispiel hat das Konversionssymptom des Schiefhalses noch ganz klassisch die Ausdrucksbewegung der Verneinung: die Patientin verweigert sich als erwachsene Frau den Eltern. Diese Verweigerung wird direkt im Symptom symbolisiert. Die Patientin verbiegt den Hals, um etwas für sie Unangenehmes damit abzubiegen.
3. Beispiel
Eine Mutter zweier kleiner Kinder, die von ihrem Mann verlassen wurde, ist zunehmend überfordert in der Versorgung ihrer Kinder, gerät unter existentielle Not, als ihr auch noch die Arbeit gekündigt wurde, sie in eine kleine Wohnung ziehen muß mit Kohlenheizung. Sie entwickelt eine Stand- und Gehschwäche, muß mit beiden Gehstützen gehen, kann sich und ihre Kinder nicht mehr selbst versorgen, die Kohlen nicht mehr nach oben tragen und muß sich mehrere Monate lang in stationäre Behandlung begeben. Die stolze Frau konnte bisher kaum ihre passiven Wünsche nach Versorgtwerden, Hilfe und Unterstützung mitteilen. In der Körpersymptomatik drückt sich dieser Wunsch nach Versorgtwerden deutlich aus. Appellhaft wird der Umwelt mitgeteilt, „so geht es nicht mehr weiter, ich kann nicht mehr alleine stehen“. Gleichzeitig hat sie unerträgliche Rückenschmerzen, „als ob es ihr das Kreuz breche“. Zusammenhänge mit ihrer psychosozialen Belastungssituation sind ihr anfänglich völlig unbewußt, sie glaubt an eine rein körperliche Ursache ihrer Beschwerden. Erst im Verlaufe einer stationären Psychotherapie bekommt sie Zugang zu ihren unbewußten Motiven, Wünschen und Bedürfnissen, worauf sich die körperliche Symptomatik nach und nach zurückbildet.
4. Beispiel
Ein 45-jährige Patientin entwickelt nach wiederholtem Scheitern einer Beziehungsaufnahme zu Männern Schlafstörungen, Angstzustände, Bewegungsstörungen beider Beine mit zuckenden Bewegungen der linken Hüfte, „als ob ihr die Beine wegsackten“, „Sprachlosigkeit“, als ob es ihr die Sprache plötzlich verschlagen würde „und Bauchschmerzen“, als ob es sie zerreißen würde“. Die Patientin ist nach wiederholten Beziehungsenttäuschungen und Arbeitslosigkeit zunehmend sozial isoliert, muß wegen ihrer Symptomatik mehrmonatige Behandlungen in psychosomatischen Kliniken auf sich nehmen, wobei sie in diesen Kliniken sehr viel Aufmerksamkeit und Zuwendung sowohl von Mitpatienten als auch vom Personal erhält. Sie ist in Beziehungen sehr mißtrauisch, fordernd, leicht kränkbar. Erst im Laufe der Therapie zeigte sich ein Drama früher Verlusterfahrungen. So ist die Patientin uneheliches Kind ihrer Mutter, den Vater hat sie nie erlebt. Von ihrer überforderten Mutter wurde sie zu einer Großmutter abgeschoben, als sie sich dort eingelebt hatte, wurde sie wieder aus diesem Bezug herausgerissen und von der selbst sehr bedürftigen Mutter wieder zu sich geholt. Dort wurde sie vom Stiefvater sexuell über mehrere Jahre mißbraucht. Zunehmend treten in höherem Alter Wünsche nach Gehaltenwerden, Versorgtwerden und dauernde Beziehung zu einem Partner auf, die allerdings immer wieder an ihrem klammernden, gereizt-mißtrauischen Verhalten mit hoher Kränkbarkeit scheitern. Sie selbst steht kaum zu diesen Wünschen, wirkt von außen sehr stark und fordernd, die kleine hilfsbedürftige Mädchenseite kann sie nicht bewußt erleben. Ihre Wünsche nach Zärtlichkeit und Zuwendung ebenso wenig. Erst im Laufe der Psychotherapie werden ihr diese Hintergründe und diese Beziehungskonflikte bewußt und sie kann zum ersten Mal die in der Symptomatik gebundenen schmerzlichen Gefühle des Verlassenseins, Abgeschobenwerdens, Traurigkeit und der Angst bewußt erleben, worauf sich die Symptomatik zurückbildet.
5. Beispiel
Eine 25-jährige Frau leidet seit mehreren Jahren unter Kopfschmerzen. Aus der Vorgeschichte geht hervor, daß sie als 14-jährige auf ihre 4-jährige Schwester auf dem Bauernhof aufpassen sollte, dabei lief die Kleine allerdings hinaus und wurde beim Zurücksetzen des Traktors vom Vater tödlich verletzt, indem der Traktor über den Kopf des Kindes fuhr. Die Patientin fühlte sich durch die Aufsicht dieser jüngeren Schwester erheblich gebunden. Die stark beschäftigten Eltern zwangen sie, sich fast ganztägig um das Kind zu kümmern. So war sie damals öfter auch sehr gereizt gegenüber ihrer Schwester. Die Leute im Haus schoben der Patientin direkt die Schuld zu, sie habe nicht auf das Kind aufgepaßt. Hier wird das Konversionssymptom in Form von Kopfschmerzen rasch verstehbar auf der Basis von Schuldgefühlen und verinnerlichten Vorwürfen. Der eigene Kopfschmerz wird zur Existenzgrundlage gegenüber den heftigen, unbewußten Anklagen des eigenen Gewissens. Er wird die Basis dafür, daß die Patientin ohne Depressionen weiterleben kann, so lange es nur ausreichend genug im Kopfe weh tut.
Therapie:
Nach gründlicher organmedizinischer und psychiatrisch-neurologischer Abklärung sollte möglichst bald eine Psychotherapie eingeleitet werden. In einer einsichtsorientierten Psychotherapie geht es dann darum, die Entstehung der Konversionssymptome als Ergebnis und Wirkung abgespaltener Trauma-und Belastungserfahrungen zu erleben. Abgespaltene traumatische Erlebnisse und schmerzliche Gefühle sollen wieder ins Bewußtsein integriert werden. Dem steht allerdings gegenüber, daß die Patienten häufig am Anfang an eine körperliche Ursache glauben und keine psychischen Zusammenhänge sehen. Stets ist auch ein Widerstand zu überwinden, weil gerade die Funktion von Körpersymptomen und Schmerzen darin begründet liegt, daß schmerzliche seelische Inhalte abgewehrt werden.
Eine Therapie hat nur dann Erfolg, wenn sie in einer vertrauensvollen Beziehung und tragfähigem Arbeitsbündnis zwischen Patient und Therapeut stattfindet. In dieser Beziehung können über das emotionale Erleben der Beziehung zum Therapeuten und über freie Assoziationen des Patienten bisher unbewußte abgespaltene Erinnerungen, Gefühle und Wünsche aktiviert werden. Die Erinnerung an abgespaltene Erlebnisse gelingt insbesondere dann, wenn der Patient stimmungsmäßig mit ähnlichen Themen und Gefühlen in Berührung gebracht wird, die zum Zeitpunkt der Trauma- bzw. konfliktbedingten Dissoziation bestanden haben. Das Dilemma der Therapie besteht allerdings darin, daß die Patienten sich mit Erfahrungsbereichen und Gefühlen auseinandersetzen müssen, die sie
auf natürliche Weise lieber vermeiden würden. Der Preis dieser Vermeidung wäre allerdings das wiederkehrende Auftreten von seelischen und körperlichen Symptombildungen.
Auch Hypnose (und andere Traumatherapietechniken) kann bei Konversionsstörungen nutzbringend angewandt werden, weil Patienten mit Konversionsstörungen häufig erhöht suggestibel sind. Im Trancezustand können mittels Suggestion die Symptome selbst erfolgreich zum Verschwinden gebracht werden und andererseits eignet sich eine hypnotische Trance dafür, dem Patienten unter Tiefenentspannung eine direkte Wiedererinnerung an abgespaltene traumatische Erfahrungen oder gravierende Konflikte zu erleichtern und damit der erneuten, bewußten Erinnerung zugänglich zu machen. Auch verhaltenstherapeutische Ansätze mit systematischer Lösung und Nichtbeachtung der Symptomatik zur Verhinderung von sekundärem Krankheitsgewinn und Veränderung des Symptomverhaltens, zumeist durch systematische Bekräftigung von Bewältigungsversuchen, ist effektiv.
Ebenso Umlernversuche mit der Methodik des Biofeedbacks. Der Vorteil des Biofeedbacks z.B. durch Rückmeldung von Muskelaktivitäten auf einem Bildschirm liegt darin, daß Patienten das normale Funktionieren von vermeintlich gestörten Körperfunktionen gut demonstriert werden kann. Es kann spätestens in der Folge von Motorikübungen zum Abklingen der Symptomatik kommen, wenn die Patienten wünschenswerte Reaktionen mittels Biofeedback selbst überwachen konnten und systematisch vom Therapeuten bekräftigt wurden.
Drei Schritte sind in der Therapie von Konversionsstörungen sinnvoll:
1. Patientenschulung:
Hier muß mit dem Patienten gemeinsam ein plausibles Erklärungsmodell erarbeitet werden. Der Patient wird dazu angeleitet, die Symptome der Konversion zu akzeptieren als „seismographische Botschaften“ für persönliche Belastung, Überanstrengung und Streß oder auch für anstehende Entscheidungen, ungelöste Konflikte. Die Symptomatik weist also darauf hin, daß eine vorausgehende Belastung schwerwiegend war oder daß ungelöste Konflikte endlich bearbeitet werden sollten, einer Lösung zugeführt werden müßten oder auch, daß man sich persönlich möglicherweise überfordert hat.
Bei einer chronifizierten Konversionsstörung könnten frühkindliche Traumata nach wie vor Bedeutung haben. So könnten Konversionssymptome erheblich dadurch getriggert werden, daß gegenwärtige Lebensumstände eine gewisse Erinnerungsnähe zu früheren bedrohlichen Lebensumständen haben. (Z.B. in bedrohlicher Umgebung wohnen, was wenig gut verarbeitete emotionale Erinnerungen an bedrohliche Lebensumstände einschließlich Ängste in Kindheit und Jugend aktivieren kann.)
Konversionsstörungen könnten auch durch Reifungskrisen oder Krisen in der Entwicklung getriggert werden – z.B. wenn frühere Verlusterfahrungen (z.B. Tod eines Elternteils oder Geschwister in der Kindheit) im späteren Leben durch funktional gefühlsmäßig ähnlich gelagerte Ereignisse reaktiviert werden (z.B. Trennung vom Elternhaus, Ankündigung der Trennung durch einen Lebenspartner und ähnliches mehr).
Solche Ursachen und mögliche Auslöser sollten gemeinsam ausreichend am Beginn der Symptomatik erforscht werden.
2. Therapieziel – Gewöhnung an schmerzliche Erinnerungen und Gefühle
In der Therapiephase geht es einerseits darum, Versuche der Erinnerung und Rekonstruktion dramatischer Erfahrungen durchzuführen und andererseits um die Suche nach geeigneten Möglichkeiten einer Angstexposition, um das bisherige Vermeidungsverhalten aufzugeben und dadurch einen Gewöhnungsprozeß anzuregen. Die Patienten müssen aufgeklärt werden, daß „bewußte“ Vermeidung der Erinnerung an Traumaerfahrungen keine sinnvolle oder gar erfolgreiche Traumabewältigung darstellt.
Vielmehr gelten Versuche der willentlichen Vermeidung subjektiv störend erlebter Erinnerungen als besonders risikobehaftete Merkmale zur Entwicklung bzw. Aufrechterhaltung einer Konversionsstörung.
In der Therapie erfolgt mit verschiedenen Methoden häufig eine Detailbesprechung und Analyse früherer wie aktueller Erfahrungen mit dem Ziel der Integration in das bewußte Gedächtnis und Versprachlichung des Erlebten. Erst wenn die nach und nach unterschiedlichen (dissoziierten) Qualitäten der Erinnerungen wie Gefühle, Gedanken, Bilder, Körpererleben, erinnert, besprochen und bewältigt werden, können sie zu einem ganzheitlichen Erleben zusammengefügt werden.
3. Integration und Transfer
Mit Blick auf einen therapeutisch begleiteten Gewöhnungsprozeß ist das Auftreten und Erleben abgespaltener emotionaler und körperlicher Erfahrungen ausdrücklich erwünscht. Sie werden sich häufig im Prozeß der Wiedererinnerung von selbst einstellen und sind dann Gegenstand der behutsamen Integration im Rahmen einer zunehmend ganzheitlicheren Erfahrung seiner selbst. Hier ist wichtig auf die Stärken und Fähigkeiten zu fokussieren, die der Patient in seinem Leben gesammelt hat und die ihn dazu befähigt haben, schwierige Erlebnisse bisher zu bewältigen; neue Sichtweisen von sich selbst anzuregen, die positiver sind und Trauerprozesse zu ermöglichen. Weiterhin muß der Therapeut dem Patienten helfen, sich wieder vermehrt in positive Beziehungen zu anderen Menschen mit vermehrtem Vertrauen und besserem Selbstschutz zu begeben. Die schmerzlichen traumatischen Erlebnisse müssen zuletzt bewußt als überlebt abgespeichert und als Relikte der Vergangenheit losgelassen werden, so daß es zu einer Aussöhnung mit der eigenen Biographie kommt, ohne daß Gegenwart und Zukunft von diesen Vergangenheitserlebnissen ständig dramatisch belastet werden.
Dr. Wolf-Jürgen Maurer,
Chefarzt der Privatklinik Hubertus der Panoramafachkliniken Scheidegg
Weiterführende Hörbücher:
PSS Band 1, wenn die Seele die Sprache verliert, fängt der Körper an zu reden (Wie der Umgang mit Gefühlen krank macht)
PSS Band 6, Schmerz als Schrei der Seele
PSS Band 2, Angst als Seelenfresser oder Lebenswecker
PSS Band 10, Traumafolgen bewältigen-Befreiung aus der Ohnmacht
PSS Band 27, Bindungstrauma
PSS Band 25, Persönlichkeitsstile – Meine Persönlichkeit, mein Symptom und Ich
und
PSS 3, 4, 5, 7, 8, 12, 13, 15, 16, 18, 20, 21