Bewusstseinstexte Dr. W.-J. Maurer

Meine innere Familie: Das innere Kind, innere Beschützer, Kritiker, Antreiber und Co.

von Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer

 

Die sogenannte selbststärkende therapeutische Arbeit mit dem „inneren Kind“ ist in aller Munde.

Worum geht es da genau?

Und was hat das mit Bindungserfahrungen und frühen Bindungsverletzungen zu tun?

Mit situationsinadäquaten emotionalen Überreaktionen und selbstschädlichem impulsiven oder süchtigem Verhalten?

Und mit Selbstannahme, Selbstwert, Selbstfürsorge und Selbststeuerung?

Für eine vertiefte Form der Selbsterkenntnis ist die Vorstellung der Persönlichkeit –bzw. des Selbsts eines Menschen als innere Familie oder eines inneren Teams aus verschiedenen Persönlichkeitsanteilen hilfreich, wie es die Teilearbeit (Ego-State-Therapie), also die Therapie mit Persönlichkeitsanteilen des eigenen Ich, empfiehlt.

Diese sieht verschiedene Denk-Fühl und Verhaltensmuster als fix verdrahtete neuronale Schaltkreise, die ähnlich wie Musiker in einem Orchester sich einmal mehr oder weniger in den Vordergrund der Bewusstseins spielen und mit denen sich das Selbst eines Menschen je nach situativer Auslösesituation mehr oder weniger komplett identifiziert.

Dann sieht die Person die Gegenwart plötzlich nur noch aus der Brille des meist in der Vergangenheit geprägten und feststeckenden Teils mit den in der Kindheit hilfreichen aber heute dysfunktionalen kindlichen Überlebensstrategien, und dieser Teil kidnappt sozusagen das Bewusstseins des sonst am Steuer stehenden Teamchefs bzw. des am Pulst stehenden Orchesterdirigenten. Und plötzlich klingt alles ziemlich schräg.

Von aussen erleben andere Menschen die Person dann schlagartig verändert in seinem Verhalten, meist emotional überreagierend und nicht situationsadäquat.

Dies ist dann der Fall, wenn die Gegenwart aus der Identifizierung mit einem inneren Teammitglied verzerrt mit der Brille einer schlimmen Vergangenheit interpretiert wird.

Im Nachhinein weiss der Betroffene dann meist selbst, dass seine Verhaltensmuster und Reaktionen unangemessen und schädlich waren, und er schämt sich nicht selten dafür oder hasst sich sogar deswegen – im kritischen emotional heissen Moment jedoch fällt ihm gar nicht auf, dass er nach einem eingefahrenen alten Schema aus der Kindheit im Autopilotmodus automatisiert handelt- eben meist dysfunktional, selbst-und oder beziehungsschädigend.

Wenn sich jemand z.B. heute ohnmächtig und alleingelassen fühlt, dann nicht, weil die aktuelle Situation das rechtfertigen würde, sondern weil Gefühle in ihm aktiviert werden, die er in seiner Kindheit wieder und wieder über einen längeren Zeitraum erfahren hat. Die Verlassenheit und Ausgrenzung, die er heute empfindet, lassen ihn innerlich wieder regelrecht zum Kind werden.

Wenn wir uns im sogenannten Schatten-Kinderleben befinden, wirken unsere Wahrnehmung und unser Verhalten entsprechend unreif. Wir erleben intensive Gefühle, die sich aus der aktuellen Situation nicht hinreichend erklären. Diese Situationen erinnern uns an Szenen in unserer Kindheit und Jugend, in denen unsere basalen Bedürfnisse missachtet wurden. In der Identifizierung mit unserem Schattenkind verlieren wir nach rasch an Augenhöhe und können in der Situation dann meist nur kämpfen, fliehen oder wie gelähmt erstarren und einfrieren unter Verlust unserer Erwachsenenkompetenzen, auf die wir dann wie in einer Problemhypnose momentan keinen Zugriff mehr haben.

Wir können mindestens zwischen vier verschiedenen Persönlichkeitszuständen(sogenannte Egostates , also Ich-Anteile) unterscheiden, aus denen sich unsere Denk- Fühl-und Verhaltensmuster zusammensetzen: zuerst die emotionalen Teile des verletzten Schattenkindanteils sowie das weniger problematische, sondern eher als Ressource anzusehende glückliche Sonnenkind .

Viele Menschen mit starken emotional verletzten ängstlich-beschämt-bedürftigen Kindanteilen haben auch Anteile, in denen innere Stimmen sie abwerten oder stark unter Druck setzen. Das sind die kritischen bzw. antreibenden, also strafend-bzw. Perfektionismus fordernden verinnerlichten Elternstimmen (auch wenn sie sich nicht unbedingt auf die

Eltern beziehen müssen). Die Betroffenen , die starke Antreiberstimmen verinnerlicht haben, haben dann das Gefühl, es allen recht machen zu müssen und sich nie beschweren zu dürfen. Sie müssen immer nett, verständnisvoll und unkompliziert sein. Dieses Verhalten zeigen oft Menschen, die in sozialen Berufen arbeiten: Krankenschwestern, Sozialarbeiter, Ärzte, Lehrer, Therapeuten. Kinder von psychisch oder auch chronisch körperlich kranken Menschen kommen leicht in Situationen, in denen sie sich für das Wohlergehen der Eltern zuständig fühlen. In der Fachsprache spricht man von »Parentifizierung«, das bedeutet eine Umkehrung des Fürsorgeverhältnisses: Das Kind übernimmt viel zu früh die Rolle eines Erwachsenen – in sozialer wie in emotionaler Hinsicht. Zugleich wird sein eigenes Bedürfnis, dass sich jemand um es kümmert, vernachlässigt.

Zuletzt gibt es die für die Alltagsfunktionsbewältigung einspringenden Manageranteilen, die dann besonders ausgeprägt sind, wenn Kinder früh wenig Fürsorge und Unterstützung erlebt haben und alles auf sich alleine gestellt als „z.B. Schlüsselkinder“ managen mussten- oft um die labilen, überforderten süchtigen oder psychisch kranken Eltern nicht zu belasten. Diese Anteile haben die Aufgabe übernommen, vor den schmerzlichen heftigen Emotionen im inneren Drama zu schützen, und um die Alltagsfunktionsfähigkeit aufrechtzuerhalten sich entweder chamäleonartig anpassen, sich unterwerfen aber auch mal Distanzschaffen können wie ein stacheliger Bodyguard, also einem starken aggressiven Beschützeranteil oder über Aufblähung eines fantasierten Grössenselbstes ein fragiles Selbstwertgefühl stabilisieren versuchen. Dies kann einerseits offen mit Sich-Gross-Machen und prahlendem Superman bzw. Supergirl-Auftreten über ein arrogant-überhebliches Verhalten geschehen, aber auch über sich besonders Kleinmachen verdeckt mit einem besonders demütig-bescheidenen Mutter-Theresa-Verhalten des Bekümmerns und selbstlosen Versorgens Anderer geschehen, um sich dadurch unentbehrlich und besonders zu machen. Angeberei, Aggression, überzogener Perfektionismus, Beleidigtsein oder Abhängiges Verhalten bis zur Hörigkeit sowie ängstliches soziales Vermeidungsverhalten und Sich-Verstecken sind Beispiele für solch schädliche Bewältigungs-Strategien, mit deren Hilfe wir versuchen, die negativen Gefühle, die Kind- und Elternanteile in uns auslösen, zu vermeiden. Zu Vermeidungsstrategien zählen neben sozialem Rückzug alle möglichen Formen von Betäubung durch Rauschmittel sowie Strategien der Ablenkung durch Medien, Essen oder exzessiven Sport. Sie erlauben uns, Scham- und Schuldgefühle und kindliche Verlassenheits-bzw. Trennungsängste weniger stark zu empfinden oder zumindest vor anderen zu verbergen.

Die Manager-und Beschützeranteile schützen zwar vor den Stimmen der Vergangenheit, sie schaden uns aber in der Gegenwart, weil sie verhindern, dass wir unsere persönlichen Potenziale ausschöpfen oder unsere Bedürfnisse befriedigen.

Therapeutisch am wichtigsten ist primär die Stärkung des gesunden Erwachsenenichs, der das innere Team , die innere Familie gut kennen sollte und zu allen Teilen eine wertschätzend kooperative Beziehung eingeht und für die Steuerung der Reaktionen gegenwarts- und bedürfnisorientiert zuständig sein sollte im Optimalfall. Gerade dieser selbststeuernde Teil ist allerdings bei Menschen mit Bindungstraumatisierungen leider nur schwach ausgeprägt, deshalb springen ja häufig dysfunktionale Feuerlöscheranteile ein, und kidnappen das Bewusstsein des Erwachsenenich, wenn es in Beziehungen heiss wird und an Kindheitsverletzungen erinnert. Dann verliert der Mensch an Wahlfreiheit und schaltet wie gesagt auf Autopilotmodus.

Durch achtsame Selbsterkenntnis des Switchens in solche dysfunktionale Anteile und annehmendes Kennenlernen der guten Gründe und anerkennungswürdigen Motive sämtlicher Seiten der eigenen Persönlichkeit wird in einer Therapie oder in einem Persönlichkeitscoaching der Teamchef mit den gesunden Erwachsenkompetenzen gestärkt, der sich v.a. mitfühlend und nachbeelternd –wie ein guter Elternteil, um die Schattenkindanteile und Kellerkinder kümmern lernt. Dies geschieht im inneren und imaginativen Dialog, wo die Gefühle und Bedürfnisse des Kindes anerkannt werden und ihnen körperachtsam Raum gegeben wird und in der Vorstellung das gegeben wird, was sie gebraucht hätten. Diese mitfühlende Selbstfürsorglichkeit erst macht unabhängig von dem dysfunktionalen Verhalten bindungstraumatisierter Menschen, die oft selbst-und beziehungschädigend Bedürfnisse ihres inneren Kindes durch exzessives aussenorientiertes krampfhaftesVerhalten anstreben, versorgen zu lassen, um das innere Loch aus der Kindheit zu stopfen oder dies zu betäuben oder über Selbstausbeutung bis zur Erschöpfung um Anerkennung kämpfen, weil sie sich selbst nicht lieben können.

Nicht die Teile sind dabei das Problem, sondern wie wir uns zu ihnen in Beziehung setzen.

Bedingung für eine bessere Selbststeuerung durch einen gestärkten Teamchef ist die Würdigung der Leistung und primären Schutzmotive aller Anteile auf der Basis des Verständnis ihrer biografischen Entstehungsgeschichte und Überlebensfunktion unter widrigen Umständen!

Dann können auch nicht mehr hilfreiche Manager-Beschützer-Kritiker-und Antreiberteile ihr extremistisches Verhalten ändern und beiseite treten, wenn allmählich eine kooperative Integration aller Anteile des inneren Orchesters unter wertschätzender Führung des Orchesterleiters stattfindet.

Dr. Wolf Maurer

 

Weiterführende Hörbücher zum Thema:

PSS Band 27, Bindungstrauma und Persönlichkeitsentwicklung

mit Ressourcenstärkenden und Selbststeuerung fördernden Übungen zur Integration innerer Persönlichkeitsanteile – Die hypnosystemische Arbeit mit Persönlichkeitsanteilen der inneren Familie

und

PSS 5, 6, 78, 10, 12, 16 , 25

 

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