Besinnung statt Betrauerung
Lebensförderliche Besinnung statt leidfixierte „Betrauerung“!
von Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer
Viele Menschen haben Angst vor ihren Gefühlen und spalten sie ab, um emotionslos irgendwie zu funktionieren. Dabei verlieren sie sich selbst immer mehr. Weil ihnen der Zugang fehlt zu ihren wirklichen Herzenswünschen und der eigenen Lebendigkeit.
Aber es gibt auch nicht wenige umgekehrte Fälle- und oft sind darunter wiederum Menschen, die lange Zeit Gefühle unterdrückt haben und dann ihre später aufbrechende Gefühle nicht regulieren gelernt haben:
Sie versumpfen dann regelrecht in negativen Gefühlen, analysieren sie, fixieren sich auf Schmerzliches in der Vergangenheit, das sie immer wieder sich und anderen erzählen (wobei es jedesmal schlimmer zu werden scheint) und (re)traumatisieren sich damit selbst und verlieren allmählich jeglichen Lebensmut und versinken in einer Problemhypnose.
Dann gilt es diesen Menschen aus der vergangenheits-und defizitfixierten Trance zu helfen und sie in die Gegenwart zu führen, wo sie neue Sinnmöglichkeiten und Selbstwirksamkeit erleben können.
Was viele Menschen, die wie wir alle mit Leidvollem und Schicksalschlägen konfrontiert wurden Kraft und Zukunftshoffnung raubt sind 3 Faktoren:
1. Die Egozentrierung,
2. die Negativierung und
3. die Hyperreflexion- das ständige fixierte Kreiseln um das negativ Erlebte und das ständige Wiederkäuen des Leidvollen mit der Folge des geistig Erblindens für verbliebene Sinnmöglichkeiten.
Man kann miteinander aber wahrlich über andere Themen sprechen, als über Traumatisches und Betrauerbares im Topf des eigenen Unbewussten. Man kann einander mit der Sinnfrage konfrontieren.
Dazu braucht man einander nur zu bitten, sich vorzustellen, ihre Lebensuhr würde innerhalb der nächsten Minuten ablaufen, und sie sollten in einer inneren Rückschau eruieren:
1) was sie für die wertvollsten Ereignisse ihres bisherigen Lebens hielten,
und
2) worum es ihnen leid täte, dass es sich nicht mehr verwirklichen ließe, weil die Zeit dafür nicht mehr ausreiche.
Schon diese einfache Imagination kann das Wesentliche an Land spülen, das Sinnvolle vom Sinnlosen trennen und das Entscheidende gegenüber dem Unwichtigen wie mit einem Leuchtstift markieren.
„Es gibt zwei Arten von Reichtum: Viel haben oder wenig nötig haben“.
Seelisch stabil erhaltende Einstellungen sind meist solche, die „wenig Glück nötig haben“, weil sie auch auf unangenehme und unvermeidliche Vorfindlichkeiten noch eine positive Antwort wissen.
Viele depressive Menschen sind wie blind für ihre Mit-, Außen- und Umwelt. Sie haben sich und das Wertvolle in ihrem Leben verloren, sie suchen sich selbst und können sich nicht finden.
Zum Wesen des Menschen gehört aber das Hingeordnet- und Ausgerichtetsein, sei es auf etwas, sei es auf jemand, sei es auf ein Werk oder auf einen Menschen, auf eine Idee oder auf eine Person.
Nur in dem Maße, in dem der Mensch geistig bei etwas oder bei jemandem ist – nur im Maße solchen Beiseins ist der Mensch bei sich. Das hilfreiche Gespräch sollte deshalb nicht rückwärtsgewandt weiter ins Grübeln oder gar ins Bemitleiden führen, jedoch ihre Sinne schärfen und ihren Blick klären.
Um sich selbst und Sinnvoll-Werthaftes wiederzufinden ist ein Umweg nötig weg von der Selbstbespiegelung und Kreiseln um eigenes Leid und Ängste, ein öffnender Blick auf andere Menschen und deren Erlebnisse.
Ein Gespräch über sachliche Veränderungen, die ein Stück Zukunft erschließen könnten, wo bislang Sackgassen endeten und um bisher Vernachlässigtes aufzugreifen und zu verwirklichen.
Statt der Beschäftigung mit der Frage „Wie ist das alles gekommen?“ ist die Frage hilfreicher umzuformulieren in: „Was kann der Sinn dessen sein, dass alles so gekommen ist?“ Viele ahnen dann die Antwort. Der Sinn konnte darin liegen, dass der depressiv leidende Mensch sich buchstäblich besinnt.
Anfangs können dann für eine sinnorientierte Neuausrichtung täglich drei Vorhaben auf dem therapeutischen Programm stehen:
1) Eine nette Begegnung mit einem anderen Menschen. Es darf auch eine gedankliche Begegnung sein, ein geschriebener Gruß, ein Telefongespräch. Der Patient soll sich bei dieser Begegnung bewusst dem anderen zuwenden, ihn wahrnehmen, seine Situation überdenken und das passende Wort für ihn auswählen.
2) Eine nützliche Handlung. Eine Tätigkeit, die einen Sinn hat und zu etwas Positivem führt. Für die man Ideen braucht, auch Anstrengung, Ausdauer und ggf. Selbstüberwindung.
3) Eine stille Pause, die mit Meditation gefüllt ist, und zwar mit gegenständlicher Meditation. Es sollte etwas betrachtet und erfühlt werden. Der rötliche Abendhimmel eignete sich dafür genauso wie der knorrige Baum vor dem Fenster oder die Blüte des Weihnachtskaktus im Schaufenster. Es geht um Besinnung, die das Subjekt mit dem Objekt verknüpft.
4) Ein Freude- oder Dankbarkeitstagebuch führen.
Die Vorhaben erweisen sich zugegeben oft als schwierig, aber umsetzbar, und es folgt eine Zeit heilsamen Umlernens. Es geht darum, selbstranszendierend sich der Welt, dem Schönen, Wahren und Gutem zuzuwenden, einem Werk, einem geliebten Menschen und eine stärkende Einstellung zu Leidvollem zu gewinnen, also letztlich darum, mit seinen geistigen Augen sehen zu lernen.
Meist höre ich dann: „Seltsam“, als ich aufhörte, mich zu suchen, begann ich, mich zu finden ..“
Das erinnert daran, wie es schon im Talmud heisst:
Ich suchte Gott und fand ihn nicht. Ich suchte mich selbst und fand mich auch nicht. Ich suchte meinen Nächsten und fand – alle drei.
Und von Christian Morgenstern stammt der Satz: Der moderne Mensch läuft zu leicht „heiß“, ihm fehlt zu sehr das Öl der Liebe.
Dr. Wolf Maurer
(inspiriert von Viktor Frankl und Elisabeth Lukas)
Weiterführende Hörbücher:
PSS 2, 4, 5, 8, 14, 18, 19, 23, 24