Bewusstseinstexte Dr. W.-J. Maurer

Einen statt spalten

von Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer

Einen statt spalten

Das Leben geht weiter.

Endlich!

Wir dürfen wieder mehr.

Wir können wieder mehr erleben und einander wieder begegnen nach den vielen Freiheits-Einschränkungen infolge der Pandemie.

Die Coronaschutzmassnahmen waren alle im Kern antisoziale Massnahmen.

Sie haben uns viel abverlangt und uns verändert.

Viele waren zwangsweise zum ersten Mal in ihrem Leben auf sich zurückgeworfen.

Mich erinnerte dies an eine der härtesten Übungen im Rahmen der psychosomatischen stationären Behandlung:

Den sogenannten Inaktivitätstag, von unseren Patienten manchmal auch „selbstverordneter Stubenarrest“ genannt.

Dieser entspricht einem erlebnisorientierten freiwilligen 24stündigem Experiment, einer Selbstkonfrontation durch äusseren Rückzug und soziale Isolation mit Entzug von zwischenmenschlichem Kontakt und ebenso mit digital-detox, dem radikalen Verzicht auf Kommunikation über technische Geräte und Medien.

Ich bezeichne dies als ultimativen Selbstliebetest.

Denn wenn der aussen- und ablenkungsorientierte Mensch alleine auf dem Zimmer hockt und nur in die Natur schaut, begegnet er sich zwangsläufig selbst.

Vermiedene Gefühle melden sich im eigenen Inneren, vor denen nicht wenige psychosomatisch erkrankte Menschen auf der Flucht sind.

Ein Stille-Experiment also, ob ich mit mir alleine sein und mich selbst aushalten kann.

Radikal akzeptierend alles ehrlich anschauen und zustimmend bewusst nachfühlend erleben kann, was sich in mir meldet.

Nur Gefühlstagebuch-Schreiben ist erlaubt.

Nach innen schauen, Raum geben, und alles mitfühlend liebevoll annehmen, was sich mir seelisch zeigt.

Alles was in mir hochkommt, will gesehen, gewürdigt, und umarmt werden.

Dies emotional oft schmerzliche aber ungemein befreiende und lebendig machende Experiment hilft, die Hornhaut zu erweichen, die wir verhärtend  um unsere Seele wachsen lassen haben.

Nähe zu sich selbst, den eigenen Wünschen, Sehnsüchten und Ängsten wird möglich.

Erst was wir wirklich fühlend in uns angenommen haben, was wir nicht mehr wegdrücken oder bekämpfen, versklavt uns nicht mehr.

So werden wir frei für eine bewusste Stellungnahme, wie wir damit umgehen wollen.

Wenn wir achtsam wie ein liebevoller Beobachter und Zeuge allen inneren Facetten unseres Selbsts, allen Persönlichkeitsanteilen, erlauben, da zu sein, werden wir ganz und diese zersplitterten Anteile bestimmen uns nicht mehr unbewusst.

So entsteht Integration und innere Einheit, unser Selbstgefühl wird weiter.

Durch innere Einheit und liebevolle Begegnung und Annahme entsteht ein Erleben von Ganzsein und Kooperation statt Zerrissenheit, Selbstablehnung und Kampf.

Wer sich hierbei nicht mit den widersprüchlichen emotionalen Anteilen identifiziert, sondern sich des liebevollen beobachtenden Zeugen bewusst bleibt, der entwickelt eine höhere Bewusstseinsebene und verbindet sich mit der Kraft eines liebevollen Gewahrseins und begegnet leidenden Anteilen wie ein guter Vater oder Mutter.

Dessen Seele weitet sich und gewinnt Raum und Weite, in der Schönes und Schmerzliches gleichermassen Platz findet.

Wer sich selbst kenngelernt und angenommen hat, der ist frei, anderen wirklich zu begegnen.

Der freut sich wieder ganz neu auf Nähe zu anderen Menschen, die er dann meist mit anderen Augen sehen und sie selbst sein lassen kann, ohne sie nach eigenen Bedürfnissen zwanghaft beurteilen und verändern zu müssen.

In den langen Monaten sozialer Distanz ist uns schmerzlich bewusst geworden, wie verletzbar wir Menschen doch sind und einander brauchen, und welch essenzielles Bedürfnis der Wunsch nach zwischenmenschlicher seelischer Nähe und resonantem Austausch im Live-Kontakt face-to-face ist.

Wir brauchen das emotionale Schwingen im Körperkontakt miteinander wie Fische das Wasser.

Wir sind soziale Wesen.

Distanz schafft Nähewünsche, sagen wir oft in der Paartherapie.

Nach dem monatelangen psychosozialem Feldexperiment von Bindungsentzug entstand allerdings auch viel Misstrauen, ja Angst voreinander, sowie Ausgrenzung und Spaltung in der Gesellschaft.

In Zeiten der Gefahrenwahrnehmung wurde das eigene Überlebensprogramm jedes Menschen existenziell aktiviert, was zu einer egozentrischen Perspektive auf Mitmenschen führte.

Angst führt zu egozentrischem Tunnelblick.

Um schmerzlich vermisste Nähe nun wieder neu erleben und konstruktive Bindungen aufbauen zu können, ist der Blick auf das, was uns miteinander eint, notwendig.

Aus der Bewusstseinspsychologie wissen wir aber: Wahrnehmung ist Projektion.

Wir sehen im aussen, was in uns ist und was wir an uns selbst ablehnen.

Wir nehmen bei anderen war, was uns unbewusst im eigenen Inneren bestimmt und umtreibt.

So geben wir allem unsere individuelle Wahrnehmungsperspektive und Bedeutung.

In unseren äusseren Gegnern begegnet uns in Wahrheit ein innerer Feind, ein Aspekt des eigenen Wesens, mit dem wir in unserer Seele noch nicht versöhnt sind und den wir bekämpfen.

Ablehnung innen erzeugt Umstände aussen, die uns als Feindschaft erscheinen.

So sind andere Menschen Seelen-Spiegel für uns, was wir in uns selbst noch nicht angenommen haben:

„Erkenne dich selbst“.

Erkenne dich in deinem Seelen-Spiegel und schenke dir selbst mitfühlendes Verständnis und liebevolle bedingungslose Annahme.

Wenn wir es nicht schaffen, aus unserem Egokäfig heraus zu treten und statt Spaltung innere und äussere Einheit zu sehen, werden die wiedergewonnenen sozialen Freiheiten zu mehr Trennung statt Verbundenheit führen.

Wir dürfen nach Monaten der Isolation also zunächst unsere kritischen Brillen putzen und uns fragen: will ich Einheit und Verbundenheit sehen oder Spaltung und Trennung?

Übe ich einen tieferen verständnisvollen Blick auf die innere Güte anderer Menschen anstelle auf deren selbstbeurteilte Fehler zu starren? 

Wer sich selbst angenommen hat und sich vergeben hat, kann andere auch annehmen.

Und wer übt, anderen zu vergeben, der kann umgekehrt auch sich selbst besser annehmen und selbst Vergebung erfahren.

Entscheide ich mich, alle Menschen mit mir verbunden zu sehen.

Unsere globale Vernetzung und Abhängigkeit ist doch genau das, was uns die Krise bewusst gemacht haben sollte.

Keiner ist eine Insel.

Je mehr Güte Sie in anderen Menschen sehen, desto mehr Gutes können Sie an sich selbst anerkennen.

Denken Sie bei Verurteilungen anderer Menschen daran:

Wir finden, was wir suchen.

Sie bilden positive oder negative Meinungen über andere Menschen in Korrelation mit der Ebene ihres Selbst-Wertes.

Je mehr unbewussten nicht angenommen Schmerz wir in unserer Seele abspalten, desto mehr projizieren wir ihn auf die Welt und beschuldigen wir andere Menschen.

Wenn Sie das Gute in der Seele anderer sehen, erweitern Sie Ihren Selbst-Wert.

Sie empfangen, was Sie geben.

Schuldvorwürfe erhöhen paradoxerweise die innere eigene Angst, unbewusste Schuld und Selbstablehnung.

Sie ernten, was Sie säen.

Angst innen erzeugt resonante Umstände aussen, die uns ängstigen.

Angst trennt, Liebe verbindet.

Durch welche Brille schaue ich auf andere Menschen?

Unser aller Erzfeind ist die Angst, und der daraus resultierende Groll und Zorn.

Er ist es, der äussere Feinde auf den Plan ruft.

Liebe ist letztlich das Einzige, was uns seelische Sicherheit verschafft.

Nur wenn ich „meinen Feind“ liebe, nur wenn ich ihn segne, versöhne ich mich mit dem Feind in mir selbst.

Nur dann werde ich frei für das Empfangen von Fülle und Geschenken der Liebe.

Um anderen wirklich etwas Wertvolles zu geben, spüren Sie das Beste in ihnen auf.

Es hilft, sich vorzustellen und sich einzufühlen, wer und wie jemand wohl sein würde, wenn er nicht so viel Angst hätte.

Sie können Ihren empfundenen Selbstwert erhöhen, indem Sie nach dem Ausschau halten, was schön, liebenswert und einzigartig ist in jeder Person, die Ihnen heute begegnet.

Diese Freiheit haben Sie immer: die Freiheit der Wahl, wie Sie auf sich und andere Menschen schauen wollen.

Probieren Sie dies doch selbst wirklich einmal aus:

Versuchen Sie zumindest stundenweise ganz gegenwärtig zu leben.

Grüssen Sie das geistige Wesen jeden Menschen, dem Sie begegnen mit offener Herzlichkeit, Wohlwollen und Freundlichkeit.

Segnen Sie Ihr Gegenüber.

Auch und gerade die nervig empfundenen Zeitgenossen.

Sehen Sie die geistige Einheit und innere Verbundenheit, dann folgt der äusseren Wieder-Öffnung des Landes die Öffnung Ihres Herzens.

Erst dies wird Ihr Wohlbefinden, Ihre innere Freiheit und Ihre Zufriedenheit nachhaltig fördern.

„Namaste!“

Nehmen wir uns selbst ernst als bedürftige soziale Wesen, und das lebendig machende Geschenk von Nähe und Begegnungsmöglichkeiten nie mehr als selbstverständlich.

Meister Eckhart erinnert uns daran:

„Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart.

Der bedeutendste Mensch ist immer der, der dir gerade gegenübersteht.

Das notwendigste Werk ist stets die Liebe.“

Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer

Literaturhinweise:

Weiterführende Hörbücher

Psychosomatik Scheidegg

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