Lebens- und Beziehungs-Fitness-Training
von Dr. Wolf-Jürgen Maurer
Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen stecken mit ihren Bewältigungsfertigkeiten am Anfang einer Behandlung in einer krisenhaften Sackgasse fest. Sie brauchen aktive Hilfe zur aktuellen gegenwärtigen Problembewältigung. Und oft bedarf es eines tieferen gemeinsamen Verständnisses nicht hilfreicher symptomaufrechterhaltender Denk-, Fühl- und Verhaltensmuster. Wenn wesentliche psychische Grundbedürfnisse (emotionale Verbundenheit, Selbstwertschätzung, kreativer Selbstausdruck Kontrolle, Sinn) in den aktuellen Beziehungen am Arbeitsplatz und im privaten Bereich nicht ausreichend befriedigt werden können, entstehen durch diesen inneren Konfliktstress krankheitswertige Symptome als Botschafter der Seele, dass etwas Wesentliches fehlt. Nicht was ein Mensch hat, sondern was ihm aktuell fehlt um gesund zu werden und was er wirklich braucht, darum geht es als gemeinsame Aufgabe einer Entdeckungsreise zum eigenen Ich, die in einer Psychotherapie unternommen wird. Aus der Erfahrung einer vertrauensvoll-akzeptierenden und haltenden Hier-und Jetzt-Beziehung auf sein eigenes Lebenspanorama zu schauen; sich einem anderen nicht bewertenden Menschen zeigen zu dürfen wie man ist und sich jenseits einer Funktionsmaske wirklich fühlt, das sind bereits zwei ganz wesentliche Wirkfaktoren einer jeden Psychotherapie und wirkt scham-und schuldentlastend und das Selbstverständnis, die Selbstannahme und das Selbstwirksamkeitserleben stärkend.
Das Selbst mit all seinen Gefühlen wahrnehmen, verstehen und annehmen. Sich in andere einfühlen und miteinander kommunizieren. Dieser Schlüsselkompetenzen bedarf der moderne Mensch, um in dieser unüberschaubaren Welt die Orientierung zu behalten und sicher durch alle emotionalen Stürme zu navigieren. Eine ausgeprägte emotionale Kompetenz, die sich trainieren lässt, bietet eine verlässliche innere Kraftquelle. Mit den entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet, gelangen wir zu Wohlbefinden und führen erfüllende Beziehungen. In liebe- und respektvollem, achtsamem Umgang mit sich und anderen besteht der wesentliche Teil einer Lebenskunst, die jeder erlernen kann.
Was viele Menschen krankt macht, ist der Umgang mit den eigenen Gefühlen. Sie haben bereits früh starre und unflexible Verhaltensmuster gelernt, haben veraltete, „giftige“ Ideen und Lebensregeln im Kopf. Mit diesem verzerrten Selbst- und Weltbild steuern sie dann unweigerlich in eine krankmachende Lebens- und Beziehungsgestaltung und somit in eine Sackgasse. In einem „faulen Lebensarrangement“ gewinnen viele Krankheiten eine psychosoziale Funktion. Die Betrachtungsweise der Beziehungsmedizin gibt Krankheit wieder einen Sinn im Rahmen der individuellen Lebensgestaltung. Bei einer Seele und Körper umfassenden Medizin geht es gezielt darum, nach neuen Lösungsmöglichkeiten zu suchen.
Ziel einer nicht problem-, sondern lösungsorientierten Kurzzeittherapie ist es, wieder mehr auf eigene Stärken und Übernahme von Eigenverantwortung für die eigene Lebensgestaltung zu achten und Hilfestellungen für eine „bezogene Autonomieentwicklung“ zu geben.
Dafür muss eine Psychotherapie, besonders im stationären Bereich einen Rahmen vorgeben, wo der Mensch im Mittelpunkt steht und nicht das Symptom, und der Leidende neue emotional korrigierende Erfahrungen machen kann. In einem geschützten wohlwollenden „Beziehungsfitnesstrainingslager“, wie ich den klinischen Therapie-Rahmen in Scheidegg konzipiert habe und gerne verstehe, lernen Menschen mithilfe aktiver Übungen, mit nicht mehr hilfreichen eingefahrenen Mustern des Denkens, Fühlens und Verhaltens zu spielen und hilfreichere Kommunikations-Strategien, die in Beziehungen auch wirklich funktionieren einzuüben. Und sie lernen sich ihren Ängsten- insbesondere vor ihren Gefühlen- zu stellen und sich aus ängstlichen Vermeidungsstrategien zu lösen, um sich weiterzuentwickeln und zu wachsen. Es geht darum besser fühlen zu lernen, um besser leben zu können. Im Wesentlichen geht es um eine Verbesserung der emotionalen Beziehung zu sich selbst und um die ausgewogene Beziehungs-und Lebensgestaltung mit wichtigen anderen Menschen, sei es im Privaten, in der Familie oder im Berufsbereich.
Viele psychischen Erkrankungen und v.a. die Depression entwickelt leider unbehandelt eine sich selbst aufrechterhaltende Eigendynamik und Abwärtsspirale, so daß der Patient, wenn er nicht aktiv angeleitet wird, in einer Falle hockt und obwohl er wie wild strampelt und viel Energie verbraucht, sich nur noch tiefer das eigene Loch gräbt, in dem er versackt.
Die Depression zwingt nämlich bestimmte Denk-, Emotions- und Verhaltensmuster auf, die mit der Zeit so selbstverständlich vorkommen, dass die Betroffenen Mühe haben, sich Alternativen vorzustellen. Diese Muster werden sozusagen ins Gehirn eingebrannt als neuronale Verschaltungen, die diktieren, wie die Menschen wahrnehmen, denken, fühlen und handeln.
Durch sorgfältiges, fokussiertes Üben können wir Menschen aber lebenslang erneut verändernd in das Gehirn eingreifen und uns Strategien aneignen, die konstruktiver sind.
Folgende Therapieansätze, die in einem modernen multimethodalen integrativen stationären Behandlungsrahmen beachtet werden sollten, um eine psychische Symptomatik und besonders eine Depression zu überwinden, haben sich in meiner Erfahrung therapeutisch bewährt:
Ganz zuerst sei genannt, worum es in jeder psychischen Behandlung ganz grundsätzlich geht: Gefühle wahrnehmen. Gefühle als Hinweise auf eigene Bedürfnisse wahrnehmen, zulassend im Körper spüren können, benennen und unterscheiden können. Dies kann geübt werden und ist nötig, um einen verlässlichen Kompass im Zusammenspiel von Herz und Verstand zu entwickeln für die Steuerung in ein erfülltes befriedigendes selbstbestimmtes Leben. Ohne Gefühle wissen wir nicht was wir wirklich brauchen und können uns kaum entscheiden. Aber so gut wie alle Menschen mit psychischen oder psychosomatischen Erkrankungen haben Angst vor ihren Gefühlen. Depression zum Beispiel ist kein Gefühl, sondern eine Krankheit in Folge einer gescheiterten Stressverarbeitung und eine Strategie zur Vermeidung quälender Gefühlszustände. Durch das Bemühen, sie nicht hochkommen zu lassen, vergeuden die Betroffenen enorme psychische Energie und schneiden sich von wesentlichen Informationen ab. Außerdem ist es nicht möglich, nur die unangenehmen Emotionen zu meiden, sondern die Gefühlsunterdrücker bekommen dann auch von den angenehmen Gefühlen weniger mit. Sie stumpfen sich selbst ab und haben immer weniger Interesse an den schönen Dingen des Lebens. Und verstehen dann meist auch nicht, warum es ihnen auf einmal schlecht geht. Aber Nichts geschieht aus heiterem Himmel. Wenn unsere Stimmung umschlägt, hat das immer einen Grund. Um die Auslöser zu entdecken empfehle ich ein Gefühls-bzw. ein Stimmungstagebuch zu führen, um mögliche situative Zusammenhänge zu erkennen und Empfindungen, denen wir auszuweichen versuchen und mit Rückzug in die Depression reagieren. Viele unserer Motivationen und Reaktionen bleiben uns nämlich unbewusst. Manchmal zeichnet sich deutlich ab, was der Auslöser ist: eine Verlusterfahrung, eine Enttäuschung, eine Zurückweisung oder ein Misslingen. Um innere Nöte und Ängste vor Gefühlen auszublenden setzen wir psychische Abwehrmechanismen (wie Verdrängung, Verleugnung, Projektion, Ausagieren und passive Aggression) ein, die ungewollte negative Folgewirkungen v.a. in Beziehungen haben. Die Abwehr richtet sich gegen das Gewahrwerden eines Konflikts. Nicht einfühlsame verletzende Beziehungserfahrungen in der Kindheit üben einen prägenden Einfluss auf Gehirn und Psyche aus, v.a. auf die Stressverarbeitung, Gefühlsregulation und Selbststeuerung. In jedem Menschen gibt es einen existenziellen Grundkonflikt zwischen Nähe und Autonomie, die die richtige Nähe-Distanz-Balancierung individuell in Beziehungen schwierig macht. All dies sind mögliche Ansatzpunkte der psychodynamischen Therapieverfahren. Zu erkennen, warum man in einen depressiven Zustand geraten ist, ist der erste Schritt zu seiner Überwindung. Es bleiben dann nur drei
Optionen: die Situation zu verändern, zu vermeiden oder zu akzeptieren. Bereits das Äußern unterdrückter Gefühle in einem unterstützenden Umfeld kann eine Depression lindern. Wir fühlen uns besser, wenn wir den Tränen einmal freien Lauf lassen können, wenn wir uns konstruktiv streiten, in angemessener Weise auf dem beharren, was uns zusteht, oder vorsichtig verschüttete Emotionen erkunden. Die Vorstellung, wir sollten nicht so fühlen, wie wir fühlen, ist gefährlicher Unsinn, und untergräbt die eigene Selbstachtung. Wie wir Gefühle äußern, können wir steuern, und das sollten wir auch möglichst konstruktiv übend lernen. Der eine Teil der Patienten, die überreguliert sind, lernen, keine Angst vor dem Ausdruck ihrer Gefühle zu haben und sie im Tanz der Gefühle kraftvoll zum Ausdruck zu bringen und zu erleben, die andere unterregulierte Fraktion mit noch mangelnder Impulskontrolle darf zuerst in einer emotionalen Skillsgruppe Fertigkeiten der Emotions-und Spannungsregulation üben.
Als zweites will ich die positive Wirkung einer achtsamen Lebenshaltung und eines Achtsamkeitstrainings bei allen psychischen Erkrankungen hervorheben. Achtsamkeit ist eine wirksame Möglichkeit Stress zu bewältigen, Schmerz zu reduzieren, die Stimmung zu verbessern und das Immunsystem zu stärken. Regelmäßige Achtsamkeitsübungen lassen im Gehirn neue Verschaltungen entstehen, sodass Menschen in der Lage sind, sorgenvollem Grübeln und dem
Kreisen um sich selbst ein Ende zu setzen. Achtsamkeit hilft, uns mehr im Hier und Jetzt zu verankern und nicht vorschnell schubladenmäßig gerade unter Stress, alles was wir erleben sofort zu bewerten. Denn unsere eigenen automatisierten Bewertungen und Interpretationen erschweren uns eine adäquate und korrekte Situationswahrnehmung. Techniken der Achtsamkeit versetzen uns in die Lage, uns selbst aufmerksam und besonnen zu steuern. Dann wird eine Entschleunigung möglich, sodass wir wieder auf die Freuden des Lebens aufmerksam werden, die uns zuvor entgangen waren. Achtsamkeitsschulung ist v.a. zur Vorbeugung gegen Rückfälle sehr hilfreich, da sich bei Menschen, die schon mehrere Depressionsepisoden erlebt haben, Verknüpfungen zwischen traurigen Gefühlen und depressiogenen Grübeleien entwickeln. Bei Depressiven sind Empfindungen der Traurigkeit direkt mit Abwärtsspiralen des Denkens und Verhaltens gekoppelt- so das es schließlich nur noch geringfügige Auslöser braucht und sich leider depressive Erlebens-und Reaktionsmuster „wie Narben im Gehirn“ einspuren. Gerade bei Menschen mit traumatischen Kindheitserfahrungen und mehreren Depressionsepisoden sorgen Achtsamkeitsmeditationen mit ihren heilsamen Erfahrungen für mehr innere Distanz. Wir verwenden viel zu viel Zeit und Mühe darauf, Dinge unter Kontrolle zu bekommen, über die wir keine Macht haben. Achtsamkeit hilft uns, zu entkuppeln, umzudenken, weise zu reagieren und akzeptierend loszulassen, was nicht zu ändern ist und nicht gegen die Realität anzukämpfen. „Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.“ Dies ist das sogenannte Gelassenheitsgebet. Es eignet sich auch als Mantra für Depressive. Die Umkehrung ist nämlich der direkte Fahrstuhl zur Hölle und führt nämlich geradewegs in eine Depression.
Als Drittes will ich betonen, das sich in unserem Leben nur etwas ändert, wenn wir selbst etwas verändern. Und zwar nicht die Welt, sondern uns selbst und unsere nicht hilfreichen Strategien. Deshalb besteht Psychotherapie vor allen aus üben, üben, üben. Psychotherapie führt wie antidepressive Medikation zu Veränderungen der Gehirnstruktur und des Gehirnstoffwechsels- und v.a. Psychotherapie durch Neu-und Umlernen von dysfunktionalen Denk-, Fühl-, Kommunikations-, Verhaltens- und Beziehungsmustern zu Neuverschaltungen im Gehirn. Es geht also um aktive Veränderung von krankheitsaufrechterhaltenden Gewohnheitsmustern. Das Gehirn verändert sich nicht durch Einsichten oder Denkübungen, sondern nur durch emotionale Neuerfahrungen und Üben und Wiederholen neuer hilfreicher Muster. Eine gute Psychotherapie, die bessere Langzeitergebnisse zeigt als alleinige Medikation (wobei bei zumindest mittel-bis schwerer Depression eine Kombination am erfolgversprechendsten ist!), hilft Patienten, mit ihren Problemen bei der Arbeit und in Beziehungen besser zurechtzukommen und unterstützt sie, anders an ihre Symptome heranzugehen (und z.B. depressive realitätsverzerrende Denkmuster zu hinterfragen und durch Achtsamkeit vom Grübeln wegzukommen, sich gute Schlafgewohnheiten anzueignen, und konstruktivere direktere und eindeutige Kommunikationsstrategien zu erlernen). Dies wird in einer guten Therapie regelrecht trainiert. Denn sonst besteht die große Gefahr, dass Symptome wiederkehren, wenn die Patienten sich keine neuen Strategien aneignen, wie sie besser mit Hindernissen, Belastungen, Konflikten, Verlusten und ihren Rollen in der Familie und am Arbeitsplatz zurechtkommen und v.a. nicht lernen, mit ihren Gefühlen konstruktiver umzugehen.
Als Viertes betone ich, dass es darum geht, Realitätsverzerrende Denkmuster zu erkennen und zu verändern. Die meisten Menschen mit depressiven Lebensmustern haben z.B. eine hohe Zurückweisungssensitivität, d.h., sie haben eine große Empfindlichkeit bzgl. Ablehnung und auch Kritikempfindlichkeit und verarbeiten selbst leichte Kränkungserlebnisse rasch mit depressivem selbstentwertendem Rückzug und autoaggressivem- selbstvorwürfigem Grübeln und Selbstzweifeln. Die Neigung zu scham-schuldhafter Konfliktverarbeitung wird durch hohe perfektionistische Selbstansprüche (stets „hilfreich, edel , fleissig und gut sein zu müssen“) aufrechterhalten und v.a. durch eine starke innere Kritikerfraktion in ihrem Persönlichkeitsteam verschärft. Dieser innere „Richter Gnadenlos“ (ein alter neuronaler Schaltkreis) haut sie meist unbarmherzig bei Problemen und Schwierigkeiten in die Pfanne, so dass das verletzte, sich ungeliebt fühlende „innere Kind“ (ebenfalls ein neuronaler Schaltkreis) sich trotz massiver Anstrengungen, es allen recht zu machen, sich als nie gut genug erleben kann. Die Aufmerksamkeit ist meist auf Negatives fokussiert, Ablehnung wird verallgemeinert und die Schuld meist zu 100 Prozent sich selbst zugeschrieben. Dysfunktionale Selbstschutz-und Vermeidungsstrategien mit dem Ziel einer Enttäuschungsprophylaxe resultieren aus diesen pessimistischen Denkstilen und negativen Grundüberzeugungen, die auch das destruktive Sorgengrübeln verursachen. Mit der Veränderung und Hinterfragung dieser negativen Grundannahmen und automatischen negativ verzerrten Bewertungen in Verbindung mit Verbesserung des meist negativen Selbstbildes als auch der Arbeit mit inneren verletzlichen Kindanteilen wird besonders von der kognitiven Verhaltenstherapie und ihrer integrativen schulenübergreifenden Weiterentwicklung der Schematherapie in den Mittelpunkt ihrer Interventionen gestellt. Das negative Selbstbild wurzelt wahrscheinlich in schlechten Erfahrungen, die aber weit zurückliegen und mit der Gegenwart nichts zu tun haben. Wenn Patienten sich Ihrer Angst vor der eigenen Schwäche stellen, verliert sie alle Macht über Sie. Gemeinsam suchen wir nach Mustern und heute dysfunktional gewordene Anpassungsstrategien auf alte Belastungen, die sich wie ein roter Faden durch das Leben ziehen (hier hilft das Legen einer Lebenslinie), die es dann in der Gegenwart aktiv zu verändern gilt. Manchmal haben körperliche Beschwerden eine versteckte symbolische Bedeutung und bringen einen bei genauerem Hinschauen auf zwischenmenschliche Bezüge auf die richtige Spur. Verdauungsprobleme können darauf verweisen, dass man etwas hinunterzuschlucken versucht, das nicht gut für einen ist. Rückenschmerzen können ein Zeichen dafür sein, dass man sich zu viel aufgeladen hat. Atemprobleme lassen sich möglicherweise so verstehen, dass einem jemand sozusagen die Luft zum Atmen nimmt. Hier hilft Körpertherapie.
Als Fünftes nenne ich das Erlernen guter Selbstfürsorge (hierzu habe ich einen eigenen Bewusstseinstext geschrieben).Selbstvernachlässigung ist eine Form der passiven Aggression gegen sich selbst und Ausdruck eines Selbstunliebeprogramms. Lernen, es sich gut gehen zulassen und zu geniessen, den kleinen Freuden mehr Beachtung zu schenken (Freude-, Stolz- bzw. Dankbarkeitstagebuch führen!), sich eine achtsame Lebenshaltung zulegen und neben regelmässigem Ausdauerbewegungstraining zur besseren Stressbewältigung ein passendes Entspannungstraining sind hier entscheidend. Eine Depression zieht das Gehirn in Mitleidenschaft, und zwar vor allem die Regionen, die mit dem Erleben von angenehmen und schönen Dingen zu
tun haben. Die Produktion der Glücksbotenstoffe wird gedrosselt, und die Nervenzellen, die für die Aufnahme dieser Stoffe da sind, verkümmern. Deshalb ist besonderen Wert zu legen auf das Erleben von positiven Emotionen im Sinne des Ansatzes der positiven Psychologie und der Glücksforschung mit Freude-,Dankbarkeitstagebüchern, Genuss-und Humortraining und Wahrnehmungs-und Sinnesschulung gerade für die kleinen kostbaren und schönen Momente des Lebens, die es bewusst und achtsam auszukosten gilt. Unser menschliches Gehirn ist nicht für unser Glück verschaltet, sondern evolutionsbiologisch dafür konstruiert, zu überleben. Gerade das depressive Gehirn ist so negativ verschaltet, dass alles Negative früher, stärker und länger registriert wird; während das Gehirn also wie ein Magnet und Staubsauger für alles Negative fungiert, ist es wie Teflon für alles Angenehme und Positive, das kaum wahrgenommen wird, wenn nicht bewusst die Aufmerksamkeit darauf gelenkt wird. Vor dem Einschlafen empfehle ich entweder eine positive Imagination mit einem heilsamen geborgenheitsvermittelnden Ruhebild oder die Drei-gute-Dinge-Erinnerungs-und Spür-Übung des aktuellen Tages. Sich mit Tätigkeiten und Aufgaben beschäftigen, die eine gewisse Herausforderung darstellen, Geist und Körper in Beschlag nehmen, ein hohes Maß an Konzentration erfordern, klare Regeln haben und ein sofortiges Feedback über sein Tun geben bringen Menschen in Flowerfahrungen und helfen das negative Selbstumkreisen zu vergessen. Hier gilt es auch, eigene Werte und Prioritäten zu klären und sich selbst stimmige wertorientierte kleine Ziele zu setzen und dran zu bleiben.
Als sechstes betone ich ein Kommunikationstraining. Dabei geht es darum, direkt und eindeutig kommunizieren zu üben. Zu Depressionen neigende Menschen scheinen von anderen Menschen mehr Zuwendung und Anerkennung zu brauchen. Allerdings versuchen sie das, was sie brauchen, selten auf direkte Weise zu bekommen. Stattdessen stellen sie ihre Bedürfnisse verzerrt dar und äußern sie in verschiedenen wenig erfolgversprechenden Formen, z.B. über Symptom-und indirektes Klageverhalten. Sie tun dies, weil sie es nicht anders gelernt haben oder weil ein alter unbewusster Konflikt besteht zwischen einem Wunsch und einer Angst. Menschen mit psychischen Erkrankungen neigen dazu, zu schnell aufzugeben. Wenn sie das Gefühl haben, dass beim Anderen nicht ankommt, was sie sagen wollen, beginnen sie sich frustriert und resigniert zurückzuziehen. Sie ärgern sich und bekommen die Zähne nicht auseinander. Sie verschließen sich und fühlen sich missverstanden und ausgenutzt. Sie dürfen lernen ruhig zu werden, sich auf Ihre Gefühle und Bedürfnisse zu konzentrieren und diese eindeutig und direkt zu äußern in Form von Ich-Aussagen (Gewaltfreie Kommunikation). Die interpersonelle Psychotherapie legt den Schwerpunkt auf Kommunikationsstrategien. Gefühle wahrnehmen, Bedürfnisse verstehen und adäquat ausdrücken lernen und sich klar artikulieren und zielgerichtet verständlich machen in Beziehungen ist der sogenannte Dreiklang, wie ich es nenne, in jeder psychosomatischen Therapie. Ebenso gilt es zu lernen, zutreffend zu interpretieren was der andere sagt, genau hinzuhören: achtsam zuhören und achtsam reden kann gelernt werden, ebenso eine gewaltfreie Kommunikation. Die systemische Familientherapie klärt solche familiär gelernten Kommunikations-und Beziehungs- bzw. Rollenmuster und verändert sie auch unter Einbeziehung von Partnern und Familienangehörigen. Selbst bei Abwesenheit der Angehörigen können durch Familienaufstellungen die unbewussten ungelösten Beziehungsmuster geklärt und verändert werden.
Als Siebtes geht es um die Fähigkeit, Kontakt und Nähe herzustellen und emotionale Verbundenheit zu erfahren. Viele Menschen, gerade wenn sie frühe verletzende Nähe-oder Trennungs-bzw. Zurückweisungserfahrungen gemacht haben, sehnen sich nach emotionaler Nähe und Verbundenheit, haben aber im Sinne eines Individuations- Abhängigkeitskonfliktes Ängste vor Nähe und vermeiden diese entweder schamängstlich oder verlieren sich in starken Helfern- und Kümmerermustern in Beziehungen. Sie geben viel und verhindern oder vermeiden unbewusst, selbst auch emotionale Nähe zu bekommen, und verstricken sich nicht selten in emotional immer unverbundeneren kränkenden und krankmachenden Beziehungsarrangements. Depressive haben größere Angst vor Intimität als die meisten Menschen. Sie verstecken sich hinter einer Maske, weil sie glauben, tief drinnen seien sie unzulänglich und nicht liebenswert. Um ein Verständnis der eigenen Bindungs-und Liebesstile und Hilfe zur Überwindung von Näheängsten geht es in interaktionellen Gruppentherapien. Hier lernt man, sich helfen zu lassen, anderen etwas zu bedeuten und geben zu können, seine Fassade abzulegen, Scham-und Zurückweisungsängste und Vermeidungsmuster zu überwinden, sich offenherzig und authentisch zu begegnen, sich und anderen mit einfühlsamem Verständnis zu begegnen und zu unterstützen und Nähe und Distanz und die eigenen Grenzen zu regulieren. Die Erfahrung zeigt, dass es kein besseres Lernumfeld für soziale Kompetenz und korrigierende emotionale Erfahrungen gibt als eine gute Gruppentherapie und dass jeder, der die Energie und den Mut aufbringt, aus sich herauszugehen, infolgedessen zufriedener sein wird. Intimität bedeutet, sich den anderen so zu zeigen, wie wir sind, damit sie uns mit all unseren Fehlern und Mängeln sehen können. Danach sehnen wir uns, und davor haben wir in einer Beziehung auch am meisten Angst. Eine emotionsfokussierte bindungsunterstützende Therapie versucht den Wackelkontakt zum eigenen Selbst als auch zum Herzen anderer Menschen zu verbessern, ggf. auch unter Einbezug des Partners. Da viele Menschen mit depressiven Mustern ihre Schwierigkeiten und Symptome selbst nicht als Krankheit verstehen sondern im Sinne ihrer strengen Selbstkritik sich dies als Charakterschwäche oder eigenes Versagen auslegen, ist hier wichtig, ggf. gemeinsam mit Angehörigen ein Krankheitsverständnis zu erarbeiten mit Überwindung von Scham-und Schuldgefühlen, was eine professionelle Hilfe und Unterstützung/Entlastung auch durch Freunde und Angehörige ermöglicht, bevor die depressive Abwärtsspirale zu einer Chronifizierung führt infolge der sich selbstverstärkenden Eigendynamik und infolge selbstschädigender Gewohnheitsmuster zunehmenden Hirnveränderungen und negativen Verschaltungen.
Als Achtes halte ich für wichtig, die verschüttete Kreativität zu fördern. Vom Opfer zum kreativen Neuschöpfer und selbstbestimmten Gestalter seines Lebens zu werden ist ein wesentliches Ziel aller Therapieansätze. Die Entwicklungsaufgabe des Erwachsenenalters ist, etwas zu schaffen, was die eigene Existenz überdauern wird. Andernfalls verfallen wir in Stagnation. Kreativität ist etwas, das wir alle brauchen. Sie ist der Gegenpol der Depression. Menschen wollen sich entwickeln, ihr Potential entfalten sich selbst ausdrücken und Sinn verwirklichen. Kreativität erfordert auch, dass
wir Ängste bezwingen. Schwierige Lebensumstände als Herausforderungen sehen zu lernen, den Sinn des Augenblicks darin zu erkennen und eigene kreative Antworten darauf zu finden stärkt die Selbstwirksamkeit von Menschen. Hierzu gilt es verschüttete Fähigkeiten, Talente und Stärken wieder oder neu zu entdecken. Eine gute Therapie sollte sich mindestens genauso viel dem Guten, Gelungenen und den Stärken und Kraftquellen des Menschen (Ressourcenaktivierung) zuwenden wie den problematischen Mustern, um nicht gemeinsam eine Problemtrance noch zu verstärken.
Da eine psychische Symptomatik auch als ein Echo der Seele zu verstehen ist, auf die Art wie man lebt, ist auf lange Sicht eine Überwindung einer psychischen Erkrankung nur dadurch möglich, dass man lernt, für sich selbst passender und zu leben. Zufriedenheit ist nur durch eigene Anstrengung zu erreichen. Sie ist ein Nebenprodukt einer bestimmten Art, unser Leben zu führen, die uns hilft, uns selbst zu mögen. Sie stellt sich ein, wenn wir mitten im Leben stehen und die Aufmerksamkeit ganz auf das gerichtet halten, was im Hier und Jetzt geschieht. Richtig zu leben bedeutet aber mehr als Pflichtbewusstsein. Es ist auch mit Vergnügen und Freude verbunden, und wir lernen dabei, kreativ zu sein und Verantwortung zu übernehmen. Zur Kreativität gehört ein spielerisches Element. Schreiben, malen, tanzen, Musik machen weckt die lebendigen emotionalen Kräfte des Menschen.
Dann macht Arbeit an sich Selbst und Selbstveränderung auch Spaß: im eigenen Tempo kleinschrittig Selbstverantwortung zu übernehmen und Herausforderungen anzunehmen und an seinen Gewohnheitsmustern spielerisch etwas zu verändern-darum geht es in einer Psychotherapie.
Damit Menschen wirklich mit sich zufrieden sein können, müssen sie sich gefordert, aber nicht überfordert fühlen. Unser Gehirn und unser Geist sind in hohem Maße formbar. Wenn wir nur genug üben, verankern wir dadurch neue, hilfreichere Strategien und Gewohnheiten in unserem Gehirn- und wenn sich unser Gehirn verändert, verändern wir uns und können befriedigender leben und erfüllter lieben.
Leben, lieben und lachen lernen,
dies wünscht Ihnen,
Dr. Wolf Maurer
Weiterführende Hörbücher:
PSS 1, 2, 7, 8, 15, 20, 21, 23, 24, 25, 27