Bewusstseinstexte Dr. W.-J. Maurer

Psychosomatische Medizin als Beziehungsmedizin – Mit offenem Herzen leben lernen

von Dr. med. Wolf-Jürgen Maurer

 

In meiner umfassenden praxisorientierten Hörbuchreihe versuche ich Psychosomatische Medizin als Beziehungsmedizin darzustellen mit dem Ziel einer Verbesserung des Kontaktes zu sich selbst und anderen Menschen.

Was ist das Gemeinsame von Menschen, die psychische oder psychosomatische Erkrankungen und Beziehungsstörungen entwickeln?

Einen „Wackelkontakt“ im Bereich der emotionalen Verbundenheit sehe ich als wesentlichen Hintergrund der Entstehung psychischer und psychosomatischer, aber auch vieler körperlicher Erkrankungen.

Das Gemeinsame ist eine Verletzung früher seelischer Grundbedürfnisse in der ersten, für die Bindung so wichtigen Lebenszeit, wo der Mensch von seinen frühen Bindungspersonen existenziell abhängig ist. Das kindliche Bedürfnis nach Verbundenheit, Zugehörigkeit, Wertschätzung, einfühlsamer Bindung und Verständnis wurde meist nicht ausreichend befriedigt, sodass es hier zu einer sog. frühen Schamwunde des sich als ungeliebt erlebenden Kindes kam.

Diese frühe Schamwunde steht also in der Regel am Anfang einer Neurose und der neurotischen Entwicklung, also erlebnisreaktiven psychischen oder psychosomatischen Störungen. Das Gemeinsame von Patienten, die sich als depressiv beschreiben und erleben, ist ein Bild von sich, vom eigenen Ich, als ein erschöpftes Ich, meist auch ein gekränktes und ein sich schämendes Ich und ein verlassenes Ich. Das verletzte Kind identifiziert sich in der weiteren Entwicklung dann immer mehr mit dieser Vorstellung eines negativen Selbstbildes.

Der neurotische Mensch lebt in einer Welt der Angst, in einer Welt des Mangels, der bedrohlichen Konkurrenz, des Ungenügendseins und des Mangels an Liebe. Man kann deshalb die Angst als Motor der Neurose bezeichnen. Denn aus dieser frühen Unsicherheit, Angst und Verletzlichkeit heraus ist die Suche nach Sicherheit übermäßig groß, neurotische Schutz- und Kompensationsstrategien gegen das Empfinden von Verletzlichkeit werden lebensbestimmend.

So wird immer mehr Liebe, Selbstliebe und Authentizität der Angst und der Absicherung geopfert. Das Leben wird als Versteckspiel kreiert und die Wurzel der Neurose ist folgendes: Hier versucht ein Mensch ein anderer zu sein, als er wirklich ist. Er verlässt sich also letztendlich selbst, er versucht, sich zu verbiegen und so zu werden, wie er meint, dass er für andere sein muss, um anderen zu gefallen und deren Anerkennung zu erhaschen. Er passt sich an, weil er sich nicht zugehörig und willkommen gefühlt hat so wie er ist. Er bewertet seine eigene Verletzlichkeit als Schwäche, was durch unsere Scham- und Mangelkultur noch verstärkt wird. Er will vor allem eins: nie mehr so verletzlich sein und so verletzt werden, wie er es früh erlebt hat. Diese Verletzlichkeit wird ausgesperrt.

Die Scham als Angst vor sozialer Zurückweisung und Nicht-Gut-Genug-sein und des Nicht-Liebenswert-seins definiert das Grundgefühl des Menschen, bestimmt sein negatives Selbstbild und seine mangelnde Selbstwertschätzung. Er versteckt und verbiegt sich- und er entfremdet sich so immer mehr von seinem eigentlichen Wesen. Sein weiteres Verhalten wird in der Regel unbewusst durch sein Schamverhalten, die Abwehr des Schamerlebens bestimmt. Die Abwehr formt unseren Charakter. Und was wird abgewehrt? Immer die kindlich geprägte zentrale Angst, Angst, noch einmal verletzt oder beschämt zu werden. Deshalb entwickeln Menschen eine Persona, eine Maske, einen Persönlichkeitspanzer, der sie mithilfe dieses eingeengten stereotypen Denk-, Fühl- und Verhaltensmusters schützen soll als Überlebungsstrategie vor der Wiederholung in der Vorgeschichte erlebter schmerzlich beschämender Verletzlichkeit. Deshalb verhält sich der Mensch meist überangepasst, entwickelt einen krankhaften Perfektionismus.

Ein Mensch, der seine Verletzlichkeit fürchtet, versucht sich von seinen Gefühlen abzuschotten. Er geht dann, nachdem er seine Herztüre verschlossen hat, fluchtartig in den Kopf, wird hart zu sich selbst, oft auch zu anderen, geht sehr streng mit sich um, verliert Mitgefühl für sich selbst und auch Empathie für andere. Denn der Kopf kann nur urteilen. Wer aber urteilt, verursacht Trennung und Trennung verursacht Schmerz, Groll und Wut. Der Mensch verbiegt sich und verlässt sich selbst, kennt sich durch Abschottung vor den eigenen Gefühlen selbst kaum, und so entwickeln Menschen eine Beziehungsstörung. Nicht nur Kontakt und Verbundenheit mit anderen, sondern auch der emotionale Bezug zu sich selbst wird dann zunehmend fragil infolge des unsichtbaren Panzers, der vor dem Empfinden von Verletzlichkeit und Scham schützen soll.

Emotionale Offenheit braucht Mut zur Verletzlichkeit. Erst wenn wir Ungewissheit wagen, es riskieren, die Maske abzulegen und uns zu zeigen, können wir ein sinnerfüllendes, leidenschaftliches Leben mit offenem Herzen führen. Dann erst können wir wirklich lieben, denn Liebe ist eine Form von Verletzlichkeit. Da die Werte- und Sinnorientierung der Angstvermeidung geopfert werden, kommt es zu Rückzug, zu fehlendem Engagement für eigene Herzenswünsche und Werte und der Mensch driftet dann immer mehr in ein existenzielles Vakuum. Er hat zwar vielleicht im Außen alles, ist aber in sich leer, lebt an sich vorbei und diese Werteleere führt letztendlich dazu, dass er immer depressiver wird, obwohl er alles hat. Dann schämt er sich für die zunehmende psychische oder psychosomatische Symptomatik, die seinen Funktionsmodus stört.

Menschen, die ihre Herztüre verschlossen haben aus Angst vor Verletzlichkeit sind nicht mehr für andere erreichbar, und werden dann trotz aller angestrengter Anpassungsbemühungen leider oft wieder verlassen und als unauthentische Wesen schnell entlarvt und nicht mehr ernst genommen oder respektiert.

So schließt sich der Teufelskreislauf der Neurose, der Mensch erlebt sich wieder verlassen, wieder zurückgewiesen, beschämt und gekränkt und wiederum verletzlich, was ihm beweist, dass das Leben gefährlich ist und er sich weiter abschotten muss vor seinen Gefühlen. So wird er immer verhärteter, verbitterter und immer depressiver.

Denken wir daran, dass Erwachsenwerden Verletzlichkeit akzeptieren heißt und Lebendigsein, fühlen und lieben können Verletzlichsein sein bedeutet. Indem Menschen sich aus Schamangst gegen ihre Gefühle abschotten, zahlen sie einen zu hohen Preis und entfernen sich von sich selbst und verlieren die Verbundenheit und das, was dem Leben wirklich Sinn verleiht.

Nur wer die Angst vor seinen Gefühlen überwindet, kann endlich damit anfangen zu leben. Unser Bemühen richtet sich dann auf das, was wir mit Engagement und Herzensbegeisterung tun und welche eigene Werte wir verwirklichen wollen und nicht darauf, wer wir in den Augen anderer sind. Das geht – wie gesagt – nur, wenn wir Verletzlichkeit wagen, wenn wir zu uns selbst stehen. Zum Glück können wir lernen, immer mehr zu lieben und immer weniger zu fürchten. Der Entwicklungsweg in der Psychotherapie ist stets der Weg aus dem Versteckspiel neurotischer Angst zurück zur Liebe zu finden.

Wie gelingt ein Leben mit offenem Herzen und Mut zur Verletzlichkeit, ohne sich aus Angst heraus unzulänglich, nicht gut genug und nicht liebenswert zu sein, ständig zu verbiegen, überanzupassen, sich selbst zu erschöpfen und sich selbst zu verraten?

Darum geht es in meiner umfassenden Hörbuchreihe zu den wesentlichen Themen der psychosomatischen Medizin und Psychotherapie.

 

Übersicht PSYCHOSOMATIK SCHEIDEGG (Folgen 1-27)

Bewusstseinstexte Dr. Wolf-Jürgen Maurer

 

Wenn die Seele die Sprache verliert …

fängt der Körper zu reden an.

Wie seelische Einflüsse körperlich krank machen.

Jeder zweite im Wartezimmer des Allgemeinarztes leidet unter funktionellen Störungen, d. h. Erkrankungen, bei denen kein organisch krankhafter Befund festzustellen ist. Bei diesen Erkrankungen sind psychosoziale Einflussfaktoren für Entste-hung und Verlauf ausschlaggebend. Psychosomatische Krank-heiten sind oft Ausdruck einer Kommunikationsstörung bzw. einer Beziehungsstörung (zu anderen Menschen, als auch zu sich selbst).

Was viele krankt macht, ist der Umgang mit den eigenen Gefühlen. Viele Menschen haben bereits früh starre und unflexible Verhaltensmuster gelernt, haben veraltete, „giftige“ Ideen und Lebensregeln im Kopf. Mit diesem verzerrten Selbst- und Weltbild steuern sie dann unweigerlich in eine krankmachende Lebens- und Beziehungsgestaltung und somit in eine Sackgasse. In einem „faulen Lebensarrangement“ gewinnen viele Krankheiten eine psychosoziale Funktion.

Die Betrachtungsweise der Beziehungsmedizin gibt Krankheit wieder einen Sinn im Rahmen der individuellen Lebensge-staltung. Bei einer Seele und Körper umfassenden Medizin geht es gezielt darum, nach neuen Lösungsmöglichkeiten zu suchen.

Ziel einer nicht problem-, sondern lösungsorientierten Kurzzeittherapie ist es, wieder mehr auf eigene Stärken und Übernahme von Eigenverantwortung für die eigene Lebensgestaltung zu achten und Hilfestellungen für eine „bezogene Autonomieentwicklung“ zu geben.

Das Selbst mit all seinen Gefühlen wahrnehmen, verstehen und annehmen. Sich in andere einfühlen und miteinander kommuni-zieren. Dieser Schlüsselkompetenzen bedarf der moderne Mensch, um in dieser unüberschaubaren Welt die Orientierung zu behalten und sicher durch alle emotionalen Stürme zu navigieren. Eine ausgeprägte emotionale Kompetenz bietet eine verlässliche innere Kraftquelle. Mit den entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet, gelangen wir zu Wohlbefinden und führen erfüllende Beziehungen. In liebe- und respektvollem, achtsamem Umgang mit sich und anderen besteht der wesentliche Teil einer Lebenskunst, die jeder erlernen kann.

Wer sich um eine solche Haltung bemüht, der trotzt auch widrigen Schicksalsschlägen mit Optimismus! Denn lässt sich der Wind auch nicht beeinflussen, so kann man doch die Segel anders setzen …

Ich wünsche meinen Hörerinnen und Hörern ein anregendes und persönlich hilfreiches Hörerlebnis mit vielen Selbsthilfeübungen

Dr. Wolf-Jürgen Maurer

Dazu passende/weiterführende PSYCHOSOMATIK SCHEIDEGG Folgen:

25, 27, 24, 21, 15

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Kommentare
  1. Christian

    6 Jahren ago

    Schöner Beitrag

− 2 = 6

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