Bewusstseinstexte Dr. W.-J. Maurer

Somatisierung: Schmerz als Schrei der Seele

von Dr. Wolf-Jürgen Maurer

Psychosomatische Schmerztherapie mit verhaltenstherapeutischen, praxisnahen Schmerzbewältigungsstrategien

Schmerz ist stets ein psychisches Phänomen und wird im emotionalen Teil des Gehirns verschaltet und dann erst bewusst wahrgenommen.

Bei weit mehr als der Hälfte von chronischen Schmerzpatienten sind die Schmerzen vollständig oder teilweise psychisch verursacht.

Hierbei wird seelischer Schmerz symbolisch im körperlichen Schmerz dargestellt und erlebt.

Chronischer Schmerz

Schätzungsweise leiden 5-7% der Bevölkerung unter chronischen Schmerzzuständen, wobei hierbei Rückenschmerzen an erster Stelle stehen.

Von einem chronischen Schmerzpatienten spricht man ab einer Symptomdauer von mindestens 6 Monaten.

Bei weit mehr als der Hälfte dieser Patienten sind die Schmerzen vollständig oder teilweise psychisch verursacht.

Eine strenge Differenzierung zwischen organischen und psychogenen Schmerzen wird zunehmend aufgegeben. Schmerz ist stets ein psychisches Phänomen. Der Schmerz sozialer Zurückweisung und Ausgrenzung sowie Verlust Verbundenheit, Geborgenheit und Zugehörigkeit wird im Gehirn an derselben zentralen Region verschaltet wie körperlicher Schmerz. Was kränkt macht krank.

Schwere Schmerzen können ohne Gewebsverletzungen entstehen. Umgekehrt können schwere Verletzungen ohne Schmerzen erlebt werden.

Der funktionelle (psychosomatische) Schmerz (Somatisierungsstörung) entsteht zentral und kann primär, ohne jeglichen Zusammenhang mit körperlichen Abläufen entstehen, jedoch ausschließlich als körperlich empfunden werden. Hierbei handelt es sich um eine Stressverarbeitungsstörung mit mangelnder Wahrnehmung und Regulationsfähigkeit unangenehmer Gefühle und daraus resultierenden körperlich-muskulären Verspannungen.

Aber auch die Prägung durch eine Schmerzerfahrung kann sekundär (Schmerzgedächtnis) zu einem funktionellen Schmerzsyndrom infolge seelischer Verarbeitungsprozesse führen.

So kann neben einer primär organischen Erkrankung eine sekundäre Schmerzerkrankung entstehen.

Psychisch bedingter Schmerz : die somatoforme Schmerzstörung

Die vorherrschende Beschwerde ist ein andauernder, schwerer und quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozeß oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Der Schmerz tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auf. Diese sollten schwerwiegend genug sein, um als entscheidende ursächliche Einflüsse zu gelten. Die Folge ist gewöhnlich eine beträchtliche persönliche oder medizinische Betreuung oder Zuwendung

Als Hinweise ergeben sich in der Vorgeschichte häufig eine Reihe anderer funktioneller Beschwerden, frühe emotionale Vernachlässigungserfahrungen, körperliche Mißhandlungen, sexueller Mißbrauch, gestörte Partnerbeziehungen.

Die Patienten sind üblicherweise beim erstmaligen Auftreten jünger als 35 Jahre.

Weiterhin zeigen sich in der Vorgeschichte viele Eingriffe und Abklärungen bei unklarer Indikation. Dies wird dadurch erklärbar, daß die Patienten hartnäckig medizinische Untersuchungen fordern trotz wiederholt negativer Ergebnisse.

Außerdem wird sowohl beim Patient, als auch häufig bei Ärzten der Schmerz allein auf seine Funktion als Warnsignal einer biomechanischen Gewebeschädigung reduziert (reduktionistisches Schmerzverständnis).

So besteht die Gefahr, daß somatische Zufallsbefunde überbewertet und kausal verknüpft werden.

Weiterhin besteht allerdings auch die Gefahr der Chronifizierung (‘Schmerzkarriere mit Doktor-Shopping’) und sekundären körperlichen Schädigungen (Zahnextraktionen, Verwachsungen nach Bauchspiegelungen und Bauch-OPs, Instabilität und entzündliche Vernarbungen nach Bandscheiben-Ops).

Bei einem solchen reduktionistischen Schmerzverständnis besteht die Gefahr der Enttäuschung und Frustration sowohl auf Seiten des Arztes als auch auf Seiten des Patienten.

Außerdem besteht selbstverständlich die Gefahr eines Medikamentenmißbrauches und Abhängigkeitsentwicklung.

Eine adäquate Diagnosestellung und Therapie bei einem chronischen Schmerzpatienten ist erst durch ein bio-psycho-soziales Schmerzverständnis mit einer zeitgleichen bio-psycho-sozialen Gesamtdiagnosenstellung zu erreichen.

Hierbei müssen die einzelnen Faktoren in ihrer aktuellen individuellen Bedeutung gewichtet werden unter Einbeziehung von psycho-sozialer Situation, biographischer Entwicklung, Bewältigungsstrategien und Krankheitsverhalten.

Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie ist stets auch, daß der Arzt körperlichen Schmerz, der ausschließlich zentral zustande kommt, als genau so real und ehrenwert sieht, wie peripher verursachten.

Gerade bei der Therapie von chronischen Schmerzpatienten zeigt sich die Dysfunktionalität des alten mechanistischen Paradigmas, der Zwei-Welten-Lehre mit Trennung zwischen Psyche und Soma.

Der Primärarzt sollte diese Patienten vor einer Chronifizierung und vor schädigenden Eingriffen ebenso wie vor einem Medikamentenmißbrauches bewahren.

Häufig (möglichst frühzeitig) sollte er sie zu einer – in der Regel stationären – psychosomatischen Behandlung motivieren, die durchaus in Form einer intensiven verhaltenstherapeutisch orientierten stationären Kurzzeittherapie unter einem multimodalen therapeutischen Ansatz durchgeführt werden kann.

Der Schmerz als Schrei der Seele

Schmerz ist der Versuch, nicht zu fühlen. Der Körper leidet unter der Bürde nicht zugelassener, nicht gefühlter Gefühle.

a) Der Schmerz als Ausdruck eines inneren Konflikts (Konversion):

Ein seelischer Schmerz wird symbolisch im körperlichem Schmerz dargestellt und erlebt:

  • Schuldgefühle: Bei depressiven Syndromen dient die Umsetzung des Seelenschmerzes in Körperschmerz der Entlastung von Schuldgefühlen (meist aufgrund unerlaubter aggressiver Impulse) (Aggressionshemmung).
  • Durch den Schmerz kann der Wunsch nach einer konstanten Beziehung symbolisiert werden, wobei der Schmerz an die Stelle einer verlorenen Person als verläßlicher Begleiter gesetzt wird (Schutz vor einer Verlust-Depression).
    Hierbei zeigt sich ein unbewußter Versorgungswunsch und durch die Schmerzangaben soll eine helfende Umgebung mobilisiert werden.
  • Bei einigen Patienten finden sich reale Schmerzerlebnisse wie z.B. körperliche Mißhandlungen in der Kindheit, die unbewußt durch die Reproduktion der Schmerzen im Erwachsenenleben diese leidvolle Lebensgeschichte symbolisch ausdrückt. Wenn nur der Körper sich erinnert, spiegelt er das frühe seelische Leid und die erlebten Verletzungen. Körperschmerz erscheint da vielen Betroffenen als besser erträglich als die Ohnmacht des seelischen Schmerzes. Allerdings verharren dann auch viele Menschen in aktuell ähnlich verletzenden unbefriedigenden Beziehungsarrangements wie damals-worauf die aktuelle Symptomatik als Ausdruck unbefriedigter psychischer Grundbedürfnisse hinweist.

b) Der Schmerz als körperliche Begleiterscheinung von Gefühlen (Affektäquivalente):

Wenn bei überwältigenden biographischen Erlebnissen als Schutzmechanismus eigene Gefühle von Ärger, Wut und Angst unterdrückt werden (Affektabspaltung) werden nur noch die mit den Gefühlen einhergehende Anspannung der Muskulatur sowie vegetative Begleiterscheinungen als Störsymptome beklagt.

Wilhelm Reich sah den Körper als gefrorene Erfahrung und gefrorene Lebensgeschichte, als Manifestation des Unbewußten.

Unerwünschte Gefühle werden in Muskel-Panzern weggesteckt.

Es schlägt sich körperlich nieder, was psychisch nicht ausgedrückt werden will oder darf (Ausdruckstabu).

Wenn die Seele die Sprache verliert, fängt der Körper zu reden an.

Eine Schmerzkrankheit entsteht häufig als inadäquater Versuch, Spannungen zur Wiederherstellung des Gleichgewichts aufzulösen.

Hierbei dient die Muskulatur als bevorzugter Müllcontainer für nicht akzeptierte Gefühle.

So formen wiederholt traumatisierende Erlebnisse charakteristische Körperhaltungen.

Die Körper-Haltung ist von der inneren Haltung nicht abkoppelbar.

Diese Patienten zeigen häufig ein gezwungenes Lächeln, verkrampfte Fäuste, zusammengepreßte Lippen und geballte Kiefermuskeln. Auffallend ist ihre häufig ausgewählte Freundlichkeit und liebenswürdige Haltung mit enormer Durch-Haltefähigkeit. Allerdings wirken sie seltsam unlebendig, denn wo keine Gefühle sind, ist auch keine Lebendigkeit. So entsteht häufig die graue Welt der Depression. Und eine Depression hält die Schmerzen aufrecht und verstärkt sie noch.

c) Der Schmerz als Abwehr der Bedrohung des Selbstwertgefühles

(narzißtischer Regulationsmechanismus)

Bei labilem Selbstwertgefühl können Kränkungen, Verluste, Gefühle von Hilflosigkeit wecken und eine existentielle Krise mit Minderwertigkeitsgefühlen auslösen.

Hierbei ist häufig eine psychoprothetische Funktion des Schmerzes festzustellen, wobei der chronische Schmerzpatient eine neue Identität als leidendes Opfer annimmt.

Der Schmerz wird zum Ankerpunkt für Größenvorstellungen:

So einen Schmerz wie ich hatte noch keiner!’.

Dies sind die berüchtigten Koryphäen-Killer: zur Stabilisierung ihres Selbstwertsystems wird die Kapitulation von immer berühmteren Koryphäen zum persönlichen Triumph. Durch Doktor-Shopping kommt es zu einem ‘Ebbe- und Flutmechanismus’ von Idealisierung und Enttäuschung mit einer häufig sehr schwierigen Arzt-Patient-Interaktion.

Dieser schwierigen Interaktion liegt eine (kränkende) Kommunikationsstörung zwischen Arzt und Patient zugrunde, wenn beide in ihrer Sozialisation nicht gelernt haben, auch über Gefühle und Emotionen zu sprechen.

Hierbei verschärft diese kränkende Interaktionsschwierigkeit häufig die Symptomatik.

Wünschenswert ist ein integrativer therapeutischer Ansatz mit den Zielen:

  • Differenzierung zwischen körperlichem Schmerz und Affekten
  • Akzeptanz und Formulierung von auch unerwünschten Affekten
  • Kontaktverbesserung zu eigenen Gefühlen und Bedürfnissen
  • Verbesserung des Selbstwertgefühles durch Schwerpunktsetzung auf die Ressourcen und Fähigkeiten des Patienten
  • Verbesserung der Bewältigungsstrategien im Umgang mit Problemen/Streß und zwischenmenschlichen Konflikten
  • Verbesserung dysfunktionaler Gedanken, Einstellungen und Glaubenssätzen
  • Verbesserung dysfunktionaler Verhaltensregulation mit sozialer Isolation durch Rückzugstendenzen und Schonungsideologie und stattdessen gestuftes Aufbau-und Bewegungstraining
  • Verbesserung der Entspannungsfähigkeit und hierdurch Verstärkung der eigenen Kontroll- und Selbsteffizienzüberzeugungen
  • Beachtung der psychosozialen Funktion der Symptomatik („Lieber Opfer als Täter!“, „Krank um nicht zu kränken“): Führen eines Symptomtagebuches
  • Psychodynamische Verfahren vor allem bei unbewußten und zwischenmenschlichen Konflikten und psychischen Traumatisierungen, verhaltenstherapeutische Ansätze vor allem bei Chronifizierungsprozessen und inadäquatem Schmerzverhalten
  • Realistische, nicht-utopische Zielsetzungen:
    Schmerz zunächst nicht wegnehmen, aber den
    sekundären Gewinn einschränken: Einüben besserer direkter aktiver Selbstfürsorge für eigene Bedürfnisse unabhängig von Symptomen
  • vor schädigenden Eingriffen schützen, Medikamentenmißbrauch entgegenwirken

Die Behandlung von chronischen Schmerzpatienten erfordert eine engmaschige, multidisziplinäre Zusammenarbeit.

Insbesondere der Primärarzt entscheidet hierbei über wichtige Weichenstellungen und ganze Schmerzkarrieren.

Zur Verhinderung von Chronifizierungen sollte der Patient häufig zu frühzeitigen stationären psychosomatischen Behandlungen motiviert werden.

Daß eine solche Behandlung, wenn sie unter multimodalem integrativem therapeutischen Ansatz in einer kleinen, persönlich geführten Klinik durchgeführt wird, auch binnen 4-6 Wochen, also mit einer Kurzzeittherapie durchgeführt werden kann, konnten wir als Modellprojekt im Allgäu in der Panorama Klinik nachweisen.

Die sehr guten Behandlungsergebnisse (97% Patientenzufriedenheit) werden durch eine externe Qualitätssicherung nachgewiesen.

Hierbei ist gerade auch wichtig, den Patienten dadurch zu einer Behandlung zu motivieren, indem er erst einmal auf der Ebene akzeptiert und abgeholt wird, auf der er sich befindet.

Dem entspricht die Kombination von Naturheilverfahren mit einer multimodalen Psychotherapie, die sich nach den individuellen und aktuellen Bedürfnissen des Patienten richtet.

Eine enge Zusammenarbeit zwischen Klinik und ambulanter Vor- und Nachbetreuung hat sich als wichtig und hilfreich erwiesen.

Im Mittelpunkt der Behandlung steht der Teufelskreislauf zwischen Spannung und Schmerz, die sich gegenseitig aufrechterhalten und aufschaukeln.

Unten angehängt habe ich deshalb mögliche therapeutische Interventionen zur Unterbrechung dieser Symptomaufrechterhaltenden Kreisläufe.

Dr. Wolf-Jürgen Maurer
– Chefarzt der Privatklinik der Panoramafachkliniken in Scheidegg – 

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Weiterführende Hörbücher:

Psychosomatik Scheidegg, Band 1:

Wenn die Seele die Sprache verliert…fängt der Körper an zu reden

Psychosomatik Scheidegg, Band 6:

Schmerz als Schrei der Seele

sowie:

PSS 1, 3, 4, 8, 10, 19, 22, 2527

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